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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf
uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das
ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft
olympischer Wesen entsprang?

Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese
Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heilig¬
keit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen
Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und ent¬
täuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert
nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein
üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vor¬
handene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.
Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phan¬
tastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fra¬
gen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen
Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin
sie sehen, Helena, das "in süsser Sinnlichkeit schwebende"
Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem
bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber
zurufen: "Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was
die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aus¬
sagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir
ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass König Midas lange
Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im
Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich
in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den
Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr
und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den
König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese
Worte ausbricht: "Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kin¬
der und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was
nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Aller¬
beste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu

ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf
uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das
ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft
olympischer Wesen entsprang?

Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese
Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heilig¬
keit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen
Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und ent¬
täuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert
nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein
üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vor¬
handene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.
Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phan¬
tastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fra¬
gen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen
Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin
sie sehen, Helena, das »in süsser Sinnlichkeit schwebende«
Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem
bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber
zurufen: »Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was
die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aus¬
sagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir
ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass König Midas lange
Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im
Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich
in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den
Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr
und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den
König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese
Worte ausbricht: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kin¬
der und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was
nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Aller¬
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[11/0024] ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang? Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heilig¬ keit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und ent¬ täuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vor¬ handene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phan¬ tastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fra¬ gen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das »in süsser Sinnlichkeit schwebende« Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber zurufen: »Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aus¬ sagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kin¬ der und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Aller¬ beste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/24>, abgerufen am 22.11.2024.