Ionischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individua¬ tionis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexen¬ trank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affec¬ ten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn -- wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern --, jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwie¬ fach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apolli¬ nischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeu¬ teten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Ver¬
Ionischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individua¬ tionis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexen¬ trank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affec¬ ten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn — wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern —‚ jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwie¬ fach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apolli¬ nischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeu¬ teten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Ver¬
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Ionischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum
Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen
die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen.
Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel,
erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individua¬
tionis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexen¬
trank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft:
nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affec¬
ten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn — wie
Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern —‚ jene Erscheinung,
dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust
qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der
Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über
einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen
bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor,
als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen
habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwie¬
fach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische
Welt etwas Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte
ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen. Wenn
die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war
sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des
Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apolli¬
nischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo
war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeu¬
teten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam
ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das
den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik
überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones
und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im
dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/22>, abgerufen am 16.02.2025.
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