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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vor¬
stellung I S. 416: "Wie auf dem tobenden Meere, das,
nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt
und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen
Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von
Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend
auf das principium individuationis". Ja es wäre von Apollo
zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes
principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen
seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man
möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des prin¬
cipii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und
Blicken die ganze Lust und Weisheit des "Scheines", sammt
seiner Schönheit, zu uns spräche.

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure
Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er
plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird,
indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestal¬
tungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu
diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen,
die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur
emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des
Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss
des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen
Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem
gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen
des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren
Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hin¬
schwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter
der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren,
singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct¬

Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vor¬
stellung I S. 416: »Wie auf dem tobenden Meere, das,
nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt
und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen
Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von
Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend
auf das principium individuationis«. Ja es wäre von Apollo
zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes
principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen
seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man
möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des prin¬
cipii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und
Blicken die ganze Lust und Weisheit des »Scheines«, sammt
seiner Schönheit, zu uns spräche.

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure
Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er
plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird,
indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestal¬
tungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu
diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen,
die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur
emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des
Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss
des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen
Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem
gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen
des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren
Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hin¬
schwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter
der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren,
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[4/0017] Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vor¬ stellung I S. 416: »Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis«. Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des prin¬ cipii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des »Scheines«, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestal¬ tungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hin¬ schwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/17>, abgerufen am 25.11.2024.