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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster
Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschreck¬
lichster Ausdruck das römische imperium ist.

Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführeri¬
scher Wahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in
classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich
nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum für
die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Götter früh
sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie
mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von
dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des
Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem
römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich
nicht zu den nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit.
Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Grie¬
chen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausser¬
ordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe,
weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzeh¬
rendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu er¬
schöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie
sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender
Wein hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volks¬
leben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der
Tragödie eingedenk sein; deren höchsten Werth wir erst
ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als In¬
begriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den
stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften des
Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.

Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich
hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen,
wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den
tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der
dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische

Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster
Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschreck¬
lichster Ausdruck das römische imperium ist.

Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführeri¬
scher Wahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in
classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich
nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum für
die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Götter früh
sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie
mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von
dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des
Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem
römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich
nicht zu den nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit.
Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Grie¬
chen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausser¬
ordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe,
weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzeh¬
rendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu er¬
schöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie
sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender
Wein hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volks¬
leben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der
Tragödie eingedenk sein; deren höchsten Werth wir erst
ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als In¬
begriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den
stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften des
Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.

Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich
hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen,
wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den
tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der
dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische

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[119/0132] Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschreck¬ lichster Ausdruck das römische imperium ist. Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführeri¬ scher Wahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich nicht zu den nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Grie¬ chen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausser¬ ordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzeh¬ rendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu er¬ schöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volks¬ leben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödie eingedenk sein; deren höchsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als In¬ begriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt. Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/132>, abgerufen am 24.11.2024.