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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand,
Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos
Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den
Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet
hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke,
der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Ge¬
fährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund
zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser
Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die
Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. --

Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster
geschilderte Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der
dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind packt alles Ab¬
gelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wir¬
belnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier
in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Ent¬
schwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Ver¬
senkung an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so
üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tra¬
gödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und
Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwer¬
müthigen Gesange -- er erzählt von den Müttern des Seins,
deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. -- Ja, meine
Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an
die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen
Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den
Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger
und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen.
Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden! Ihr sollt den
dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten!
Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder
eures Gottes!

fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand,
Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos
Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den
Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet
hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke,
der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Ge¬
fährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund
zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser
Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die
Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. —

Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster
geschilderte Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der
dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind packt alles Ab¬
gelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wir¬
belnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier
in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Ent¬
schwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Ver¬
senkung an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so
üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tra¬
gödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und
Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwer¬
müthigen Gesange — er erzählt von den Müttern des Seins,
deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. — Ja, meine
Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an
die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen
Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den
Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger
und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen.
Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden! Ihr sollt den
dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten!
Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder
eures Gottes!

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[117/0130] fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Ge¬ fährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. — Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind packt alles Ab¬ gelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wir¬ belnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Ent¬ schwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Ver¬ senkung an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tra¬ gödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwer¬ müthigen Gesange — er erzählt von den Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. — Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden! Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes!

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/130>, abgerufen am 24.11.2024.