es giebt auch eine Productivität der Thaten". so hat er, in anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theo¬ retische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaub¬ würdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.
Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erden¬ glück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende For¬ derung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der "Würde des Menschen" und der "Würde der Arbeit" verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, sol¬ chen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen ent¬ artet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraus¬ setzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und
es giebt auch eine Productivität der Thaten«. so hat er, in anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theo¬ retische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaub¬ würdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.
Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erden¬ glück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende For¬ derung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der »Würde des Menschen« und der »Würde der Arbeit« verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, sol¬ chen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen ent¬ artet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraus¬ setzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und
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es giebt auch eine Productivität der Thaten«. so hat er, in
anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theo¬
retische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaub¬
würdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der
Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende
Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.
Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse
dieser sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt
sich wähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken,
wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von
einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein
durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen
und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erden¬
glück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen
allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende For¬
derung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die
Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt!
Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen
Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie
leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die
Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn
der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte
von der »Würde des Menschen« und der »Würde der Arbeit«
verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung
entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen
Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten
gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern
für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, sol¬
chen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an
unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren,
die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen ent¬
artet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraus¬
setzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/114>, abgerufen am 07.02.2025.
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