durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener anderen Form der "griechischen Heiterkeit", der alexandrini¬ schen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete -- dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzu¬ lösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwen¬ deten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft ge¬ leitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: "Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden".
18.
Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erken¬ nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die
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durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener anderen Form der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrini¬ schen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete — dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzu¬ lösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwen¬ deten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft ge¬ leitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: »Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden«.
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Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erken¬ nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die
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durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die
Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener
anderen Form der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrini¬
schen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt
dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem
Geiste des Undionysischen ableitete — dass sie die dionysische
Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzu¬
lösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes
eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina
setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h.
die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwen¬
deten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der
Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft ge¬
leitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den
einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren
Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben
sagt: »Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden«.
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Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige
Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion
seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben
zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erken¬
nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des
Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen
Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst,
jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem
Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar
weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren
Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/112>, abgerufen am 16.02.2025.
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