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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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Erstens nämlich waren jene "grossen" Begriffe wie z. B. der vom unantastbaren einen und ungetheilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode, thatsächlich nur zu grosse und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen zerbrechliche Begriffe; wenn die klassische Philologie jetzt wieder auf dieselben Begriffe zurückkommt, so sind es nur scheinbar noch die alten Schläuche; in Wahrheit ist alles neu geworden, Schlauch und Geist, Wein und Wort. Ueberall spürt man es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern, Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische Alterthum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges Ackerland geworden ist.

Und noch ein Zweites möchte ich jenen Freunden des Alterthums zurufen, die von der klassischen Philologie sich missvergnügt abwenden. Ihr verehrt ja die unsterblichen Meisterwerke des hellenischen Geistes in Wort und Bild und wähnt euch um vieles reicher und beglückter als jede Generation, die sie entbehren musste: nun, so vergesst nicht, dass diese ganze zauberische Welt einstmals vergraben lag, überschüttet von berghohen Vorurtheilen, vergesst nicht, dass Blut und Schweiss und die mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger unserer Wissenschaft nöthig war, um jene Welt aus ihrer Versenkung empor steigen zu lassen. Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag? Wer war denn Homer vor der muthigen Geistesthat Wolfs? Ein guter Alter, im besten Falle unter der Signatur "Naturgenie" bekannt, jedenfalls das Kind eines barbarischen Zeitalters, voller Verstösse gegen den guten Geschmack und die guten Sitten. Hören wir doch, wie noch 1783 ein vortrefflicher Gelehrter über Homer schreibt: "Wo hält sich doch der liebe

Erstens nämlich waren jene «grossen» Begriffe wie z. B. der vom unantastbaren einen und ungetheilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode, thatsächlich nur zu grosse und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen zerbrechliche Begriffe; wenn die klassische Philologie jetzt wieder auf dieselben Begriffe zurückkommt, so sind es nur scheinbar noch die alten Schläuche; in Wahrheit ist alles neu geworden, Schlauch und Geist, Wein und Wort. Ueberall spürt man es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern, Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische Alterthum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges Ackerland geworden ist.

Und noch ein Zweites möchte ich jenen Freunden des Alterthums zurufen, die von der klassischen Philologie sich missvergnügt abwenden. Ihr verehrt ja die unsterblichen Meisterwerke des hellenischen Geistes in Wort und Bild und wähnt euch um vieles reicher und beglückter als jede Generation, die sie entbehren musste: nun, so vergesst nicht, dass diese ganze zauberische Welt einstmals vergraben lag, überschüttet von berghohen Vorurtheilen, vergesst nicht, dass Blut und Schweiss und die mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger unserer Wissenschaft nöthig war, um jene Welt aus ihrer Versenkung empor steigen zu lassen. Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag? Wer war denn Homer vor der muthigen Geistesthat Wolfs? Ein guter Alter, im besten Falle unter der Signatur «Naturgenie» bekannt, jedenfalls das Kind eines barbarischen Zeitalters, voller Verstösse gegen den guten Geschmack und die guten Sitten. Hören wir doch, wie noch 1783 ein vortrefflicher Gelehrter über Homer schreibt: «Wo hält sich doch der liebe

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[23/0021] Erstens nämlich waren jene «grossen» Begriffe wie z. B. der vom unantastbaren einen und ungetheilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode, thatsächlich nur zu grosse und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen zerbrechliche Begriffe; wenn die klassische Philologie jetzt wieder auf dieselben Begriffe zurückkommt, so sind es nur scheinbar noch die alten Schläuche; in Wahrheit ist alles neu geworden, Schlauch und Geist, Wein und Wort. Ueberall spürt man es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern, Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische Alterthum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges Ackerland geworden ist. Und noch ein Zweites möchte ich jenen Freunden des Alterthums zurufen, die von der klassischen Philologie sich missvergnügt abwenden. Ihr verehrt ja die unsterblichen Meisterwerke des hellenischen Geistes in Wort und Bild und wähnt euch um vieles reicher und beglückter als jede Generation, die sie entbehren musste: nun, so vergesst nicht, dass diese ganze zauberische Welt einstmals vergraben lag, überschüttet von berghohen Vorurtheilen, vergesst nicht, dass Blut und Schweiss und die mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger unserer Wissenschaft nöthig war, um jene Welt aus ihrer Versenkung empor steigen zu lassen. Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag? Wer war denn Homer vor der muthigen Geistesthat Wolfs? Ein guter Alter, im besten Falle unter der Signatur «Naturgenie» bekannt, jedenfalls das Kind eines barbarischen Zeitalters, voller Verstösse gegen den guten Geschmack und die guten Sitten. Hören wir doch, wie noch 1783 ein vortrefflicher Gelehrter über Homer schreibt: «Wo hält sich doch der liebe

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/21>, abgerufen am 28.03.2024.