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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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naiven Hingabe an die Volksmeinung, die Homer auch das Urbild aller komischen Epen, den Margites zutheilte, noch ein Standpunkt der Unmündigkeit in historischer Kritik. Gehen wir von Aristoteles auch rückwärts, so nimmt die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu fassen, immer mehr zu; immer mehr Gedichte werden auf den Namen des Homer gehäuft, und jedes Zeitalter zeigt seinen Grad von Kritik darin, wie viel und was es als Homerisch bestehen lässt. Man empfindet unwillkürlich bei diesem langsamen Zurückschreiten, dass jenseits Herodot eine Periode liege, in der eine unübersehbare Fluth grosser Epen mit dem Namen Homers identifizirt worden sei.

Versetzen wir uns in das Zeitalter des Pisistratus: so umschloss damals das Wort "Homer" eine Fülle des Ungleichartigsten. Was bedeutete damals Homer? Offenbar fühlte sich jenes Zeitalter ausser Stande, eine Persönlichkeit und die Grenzen ihrer Aeusserungen wissenschaftlich zu umspannen. Homer war hier fast zu einer leeren Hülse geworden. Hier tritt nun die wichtige Frage an uns heran: was liegt vor dieser Periode? Ist die Persönlichkeit Homers, weil man sie nicht fassen konnte, allmählich zu einem leeren Namen verdunstet? Oder hat man damals in naiver Volksweise die gesammte heroische Dichtung verkörpert und sich unter der Figur Homers veranschaulicht? Ist somit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht worden? Dies ist die eigentliche "homerische Frage", jenes centrale Persönlichkeitsproblem.

Die Schwierigkeit, auf dieselbe zu antworten, vermehrt sich aber, wenn man von einer andern Seite aus, nämlich vom Standpunkte der erhaltenen Gedichte aus, eine Antwort versucht. Wie es heutzutage schwer ist und eine ernste Anstrengung erfordert, um die Paradoxie des Gravitationsgesetzes sich deutlich zu machen, dass nämlich die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume wechselt, ohne dass zwischen beiden ein materielles Band besteht: so kostet es gegenwärtig Mühe, zum vollen Eindruck jenes wunderbaren Problems zu kommen, das aus Hand in Hand wandernd sein ursprüngliches höchst auffälliges

naïven Hingabe an die Volksmeinung, die Homer auch das Urbild aller komischen Epen, den Margites zutheilte, noch ein Standpunkt der Unmündigkeit in historischer Kritik. Gehen wir von Aristoteles auch rückwärts, so nimmt die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu fassen, immer mehr zu; immer mehr Gedichte werden auf den Namen des Homer gehäuft, und jedes Zeitalter zeigt seinen Grad von Kritik darin, wie viel und was es als Homerisch bestehen lässt. Man empfindet unwillkürlich bei diesem langsamen Zurückschreiten, dass jenseits Herodot eine Periode liege, in der eine unübersehbare Fluth grosser Epen mit dem Namen Homers identifizirt worden sei.

Versetzen wir uns in das Zeitalter des Pisistratus: so umschloss damals das Wort »Homer« eine Fülle des Ungleichartigsten. Was bedeutete damals Homer? Offenbar fühlte sich jenes Zeitalter ausser Stande, eine Persönlichkeit und die Grenzen ihrer Aeusserungen wissenschaftlich zu umspannen. Homer war hier fast zu einer leeren Hülse geworden. Hier tritt nun die wichtige Frage an uns heran: was liegt vor dieser Periode? Ist die Persönlichkeit Homers, weil man sie nicht fassen konnte, allmählich zu einem leeren Namen verdunstet? Oder hat man damals in naïver Volksweise die gesammte heroische Dichtung verkörpert und sich unter der Figur Homers veranschaulicht? Ist somit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht worden? Dies ist die eigentliche »homerische Frage«, jenes centrale Persönlichkeitsproblem.

Die Schwierigkeit, auf dieselbe zu antworten, vermehrt sich aber, wenn man von einer andern Seite aus, nämlich vom Standpunkte der erhaltenen Gedichte aus, eine Antwort versucht. Wie es heutzutage schwer ist und eine ernste Anstrengung erfordert, um die Paradoxie des Gravitationsgesetzes sich deutlich zu machen, dass nämlich die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume wechselt, ohne dass zwischen beiden ein materielles Band besteht: so kostet es gegenwärtig Mühe, zum vollen Eindruck jenes wunderbaren Problems zu kommen, das aus Hand in Hand wandernd sein ursprüngliches höchst auffälliges

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[13/0011] naïven Hingabe an die Volksmeinung, die Homer auch das Urbild aller komischen Epen, den Margites zutheilte, noch ein Standpunkt der Unmündigkeit in historischer Kritik. Gehen wir von Aristoteles auch rückwärts, so nimmt die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu fassen, immer mehr zu; immer mehr Gedichte werden auf den Namen des Homer gehäuft, und jedes Zeitalter zeigt seinen Grad von Kritik darin, wie viel und was es als Homerisch bestehen lässt. Man empfindet unwillkürlich bei diesem langsamen Zurückschreiten, dass jenseits Herodot eine Periode liege, in der eine unübersehbare Fluth grosser Epen mit dem Namen Homers identifizirt worden sei. Versetzen wir uns in das Zeitalter des Pisistratus: so umschloss damals das Wort »Homer« eine Fülle des Ungleichartigsten. Was bedeutete damals Homer? Offenbar fühlte sich jenes Zeitalter ausser Stande, eine Persönlichkeit und die Grenzen ihrer Aeusserungen wissenschaftlich zu umspannen. Homer war hier fast zu einer leeren Hülse geworden. Hier tritt nun die wichtige Frage an uns heran: was liegt vor dieser Periode? Ist die Persönlichkeit Homers, weil man sie nicht fassen konnte, allmählich zu einem leeren Namen verdunstet? Oder hat man damals in naïver Volksweise die gesammte heroische Dichtung verkörpert und sich unter der Figur Homers veranschaulicht? Ist somit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht worden? Dies ist die eigentliche »homerische Frage«, jenes centrale Persönlichkeitsproblem. Die Schwierigkeit, auf dieselbe zu antworten, vermehrt sich aber, wenn man von einer andern Seite aus, nämlich vom Standpunkte der erhaltenen Gedichte aus, eine Antwort versucht. Wie es heutzutage schwer ist und eine ernste Anstrengung erfordert, um die Paradoxie des Gravitationsgesetzes sich deutlich zu machen, dass nämlich die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume wechselt, ohne dass zwischen beiden ein materielles Band besteht: so kostet es gegenwärtig Mühe, zum vollen Eindruck jenes wunderbaren Problems zu kommen, das aus Hand in Hand wandernd sein ursprüngliches höchst auffälliges

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/11>, abgerufen am 29.03.2024.