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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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Gepräge immer mehr verloren hat. Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den grössten Genien der Muth entsinkt, in denen ewig unerreichte Musterbilder für alle Kunstperioden gegeben sind: und doch der Dichter derselben ein hohler Name, zerbrechlich, wo man ihn anfasst, nirgends der sichere Kern einer waltenden Persönlichkeit. "Denn wer wagte mit Göttern den Kampf, den Kampf mit dem Einen?" sagt selbst Goethe, der, wenn irgend ein Genius mit jenem geheimnissvollen Problem der homerischen Unerreichbarkeit gerungen hat. Ueber dasselbe hinweg schien der Begriff der Volksdichtung als Brücke zu führen; eine tiefere und ursprünglichere Gewalt als die jedes einzelnen schöpferischen Individuums sollte hier thätig gewesen sein, das glücklichste Volk in seiner glücklichsten Periode, in der höchsten Regsamkeit der Phantasie und der poetischen Gestaltungskraft sollte jene unausmessbaren Dichtungen erzeugt haben. In dieser Allgemeinheit hat der Gedanke einer Volksdichtung etwas Berauschendes; man empfindet die breite übermächtige Entfesselung einer volksthümlichen Eigenschaft mit künstlerischem Behagen und freut sich dieser Naturerscheinung, wie man sich einer unaufhaltsam hinströmenden Wassermasse freut. Sobald man sich aber diesem Gedanken nähern und ins Angesicht schauen wollte, so setzte man unwillkürlich an Stelle der dichtenden Volksseele eine dichterische Volksmasse, eine lange Reihe von Volksdichtern, an denen das Individuelle nichts bedeutete, sondern in denen der Wogenschlag der Volksseele, die anschauliche Kraft des Volksauges, die ungeschwächteste Fülle der Volksphantasie mächtig war: eine Reihe von urwüchsigen Genien, einer Zeit, einer Dichtgattung, einem Stoffe zugehörig.

Aber eine solche Vorstellung machte mit Recht misstrauisch: sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichsten Erzeugnisse, dem Genius so karg und haushälterisch umgeht, gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune verschwendet haben? Hier kehrte nun die bedenkliche Frage wieder; ist nicht vielleicht auch mit einem einzigen Genius auszukommen und der vorhandene

Gepräge immer mehr verloren hat. Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den grössten Genien der Muth entsinkt, in denen ewig unerreichte Musterbilder für alle Kunstperioden gegeben sind: und doch der Dichter derselben ein hohler Name, zerbrechlich, wo man ihn anfasst, nirgends der sichere Kern einer waltenden Persönlichkeit. «Denn wer wagte mit Göttern den Kampf, den Kampf mit dem Einen?» sagt selbst Goethe, der, wenn irgend ein Genius mit jenem geheimnissvollen Problem der homerischen Unerreichbarkeit gerungen hat. Ueber dasselbe hinweg schien der Begriff der Volksdichtung als Brücke zu führen; eine tiefere und ursprünglichere Gewalt als die jedes einzelnen schöpferischen Individuums sollte hier thätig gewesen sein, das glücklichste Volk in seiner glücklichsten Periode, in der höchsten Regsamkeit der Phantasie und der poetischen Gestaltungskraft sollte jene unausmessbaren Dichtungen erzeugt haben. In dieser Allgemeinheit hat der Gedanke einer Volksdichtung etwas Berauschendes; man empfindet die breite übermächtige Entfesselung einer volksthümlichen Eigenschaft mit künstlerischem Behagen und freut sich dieser Naturerscheinung, wie man sich einer unaufhaltsam hinströmenden Wassermasse freut. Sobald man sich aber diesem Gedanken nähern und ins Angesicht schauen wollte, so setzte man unwillkürlich an Stelle der dichtenden Volksseele eine dichterische Volksmasse, eine lange Reihe von Volksdichtern, an denen das Individuelle nichts bedeutete, sondern in denen der Wogenschlag der Volksseele, die anschauliche Kraft des Volksauges, die ungeschwächteste Fülle der Volksphantasie mächtig war: eine Reihe von urwüchsigen Genien, einer Zeit, einer Dichtgattung, einem Stoffe zugehörig.

Aber eine solche Vorstellung machte mit Recht misstrauisch: sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichsten Erzeugnisse, dem Genius so karg und haushälterisch umgeht, gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune verschwendet haben? Hier kehrte nun die bedenkliche Frage wieder; ist nicht vielleicht auch mit einem einzigen Genius auszukommen und der vorhandene

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[14/0012] Gepräge immer mehr verloren hat. Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den grössten Genien der Muth entsinkt, in denen ewig unerreichte Musterbilder für alle Kunstperioden gegeben sind: und doch der Dichter derselben ein hohler Name, zerbrechlich, wo man ihn anfasst, nirgends der sichere Kern einer waltenden Persönlichkeit. «Denn wer wagte mit Göttern den Kampf, den Kampf mit dem Einen?» sagt selbst Goethe, der, wenn irgend ein Genius mit jenem geheimnissvollen Problem der homerischen Unerreichbarkeit gerungen hat. Ueber dasselbe hinweg schien der Begriff der Volksdichtung als Brücke zu führen; eine tiefere und ursprünglichere Gewalt als die jedes einzelnen schöpferischen Individuums sollte hier thätig gewesen sein, das glücklichste Volk in seiner glücklichsten Periode, in der höchsten Regsamkeit der Phantasie und der poetischen Gestaltungskraft sollte jene unausmessbaren Dichtungen erzeugt haben. In dieser Allgemeinheit hat der Gedanke einer Volksdichtung etwas Berauschendes; man empfindet die breite übermächtige Entfesselung einer volksthümlichen Eigenschaft mit künstlerischem Behagen und freut sich dieser Naturerscheinung, wie man sich einer unaufhaltsam hinströmenden Wassermasse freut. Sobald man sich aber diesem Gedanken nähern und ins Angesicht schauen wollte, so setzte man unwillkürlich an Stelle der dichtenden Volksseele eine dichterische Volksmasse, eine lange Reihe von Volksdichtern, an denen das Individuelle nichts bedeutete, sondern in denen der Wogenschlag der Volksseele, die anschauliche Kraft des Volksauges, die ungeschwächteste Fülle der Volksphantasie mächtig war: eine Reihe von urwüchsigen Genien, einer Zeit, einer Dichtgattung, einem Stoffe zugehörig. Aber eine solche Vorstellung machte mit Recht misstrauisch: sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichsten Erzeugnisse, dem Genius so karg und haushälterisch umgeht, gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune verschwendet haben? Hier kehrte nun die bedenkliche Frage wieder; ist nicht vielleicht auch mit einem einzigen Genius auszukommen und der vorhandene

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/12>, abgerufen am 23.11.2024.