Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

Wissenschaftl. Gesichtspunkt d. Untersuchung.
aber überall durch bloßes Aneinanderknüpfen zweier
Endpunkte der Mittelpunkt nicht hergestellt wird, so
reicht es auch hier nicht zu, die beiden Abstracta bloß
aneinander zu reihen, um den Begriff vollständig zu
fassen: es ist vielmehr sehr wohl zu berücksichtigen, daß
die beiden Elemente sich durchdringen, und Ein drittes
aus beiden zusammengesetztes Ganze bilden, dessen Zu-
sammensetzung selbst nicht weiter erfaßt und verstanden
werden kann, so daß sich kein Punkt angeben läßt, von
dem man sagen möchte: da höre die Thierheit auf und
fange die Vernunft an; oder umgekehrt: da höre die
Vernunft auf und fange die Thierheit an.

Nach dieser Forderung den Begriff des Men-
sen
aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu
oft erinnert werden kann, daß der Mensch nicht nur
weder Vernunft allein noch Thier allein,
sondern auch nicht beides nebeneinander, sondern durch-
aus beides als Eines, und insofern überhaupt weder
Vernunft, noch Thier
, sondern ein Drittes aus
beiden, durch Vernunft modificirte Thier-
heit
und durch Thierheit modificirte Ver-
nunft
, sey; die Vernunft in ihm durchaus an Thier-
heit (an sinnliches Bewußtseyn), und Thierheit durch-
aus an Vernunft (an rein geistiges Bewußtseyn) ge-
bunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen
Geistes, der Geist durchaus umschlossen von der Welt,
dem Tempel Gottes.

Fassen wir nun darnach auch die Bestimmung
des Menschen
, so tritt dabei derselbige Fall ein,

5*

Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
aber uͤberall durch bloßes Aneinanderknuͤpfen zweier
Endpunkte der Mittelpunkt nicht hergeſtellt wird, ſo
reicht es auch hier nicht zu, die beiden Abſtracta bloß
aneinander zu reihen, um den Begriff vollſtaͤndig zu
faſſen: es iſt vielmehr ſehr wohl zu beruͤckſichtigen, daß
die beiden Elemente ſich durchdringen, und Ein drittes
aus beiden zuſammengeſetztes Ganze bilden, deſſen Zu-
ſammenſetzung ſelbſt nicht weiter erfaßt und verſtanden
werden kann, ſo daß ſich kein Punkt angeben laͤßt, von
dem man ſagen moͤchte: da hoͤre die Thierheit auf und
fange die Vernunft an; oder umgekehrt: da hoͤre die
Vernunft auf und fange die Thierheit an.

Nach dieſer Forderung den Begriff des Men-
ſen
aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu
oft erinnert werden kann, daß der Menſch nicht nur
weder Vernunft allein noch Thier allein,
ſondern auch nicht beides nebeneinander, ſondern durch-
aus beides als Eines, und inſofern uͤberhaupt weder
Vernunft, noch Thier
, ſondern ein Drittes aus
beiden, durch Vernunft modificirte Thier-
heit
und durch Thierheit modificirte Ver-
nunft
, ſey; die Vernunft in ihm durchaus an Thier-
heit (an ſinnliches Bewußtſeyn), und Thierheit durch-
aus an Vernunft (an rein geiſtiges Bewußtſeyn) ge-
bunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen
Geiſtes, der Geiſt durchaus umſchloſſen von der Welt,
dem Tempel Gottes.

Faſſen wir nun darnach auch die Beſtimmung
des Menſchen
, ſo tritt dabei derſelbige Fall ein,

5*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0079" n="67"/><fw place="top" type="header">Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftl. Ge&#x017F;ichtspunkt d. Unter&#x017F;uchung.</fw><lb/>
aber u&#x0364;berall durch bloßes Aneinanderknu&#x0364;pfen zweier<lb/>
Endpunkte der Mittelpunkt nicht herge&#x017F;tellt wird, &#x017F;o<lb/>
reicht es auch hier nicht zu, die beiden Ab&#x017F;tracta bloß<lb/>
aneinander zu reihen, um den Begriff voll&#x017F;ta&#x0364;ndig zu<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en: es i&#x017F;t vielmehr &#x017F;ehr wohl zu beru&#x0364;ck&#x017F;ichtigen, daß<lb/>
die beiden Elemente &#x017F;ich durchdringen, und Ein drittes<lb/>
aus beiden zu&#x017F;ammenge&#x017F;etztes Ganze bilden, de&#x017F;&#x017F;en Zu-<lb/>
&#x017F;ammen&#x017F;etzung &#x017F;elb&#x017F;t nicht weiter erfaßt und ver&#x017F;tanden<lb/>
werden kann, &#x017F;o daß &#x017F;ich kein Punkt angeben la&#x0364;ßt, von<lb/>
dem man &#x017F;agen mo&#x0364;chte: da ho&#x0364;re die Thierheit auf und<lb/>
fange die Vernunft an; oder umgekehrt: da ho&#x0364;re die<lb/>
Vernunft auf und fange die Thierheit an.</p><lb/>
            <p>Nach die&#x017F;er Forderung <hi rendition="#g">den Begriff des Men-<lb/>
&#x017F;en</hi> aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu<lb/>
oft erinnert werden kann, daß der <hi rendition="#g">Men&#x017F;ch</hi> nicht nur<lb/>
weder <hi rendition="#g">Vernunft allein</hi> noch <hi rendition="#g">Thier allein</hi>,<lb/>
&#x017F;ondern auch nicht beides nebeneinander, &#x017F;ondern durch-<lb/>
aus beides als Eines, und in&#x017F;ofern u&#x0364;berhaupt <hi rendition="#g">weder<lb/>
Vernunft, noch Thier</hi>, &#x017F;ondern ein Drittes aus<lb/>
beiden, <hi rendition="#g">durch Vernunft modificirte Thier-<lb/>
heit</hi> und <hi rendition="#g">durch Thierheit modificirte Ver-<lb/>
nunft</hi>, &#x017F;ey; die Vernunft in ihm durchaus an Thier-<lb/>
heit (an &#x017F;innliches Bewußt&#x017F;eyn), und Thierheit durch-<lb/>
aus an Vernunft (an rein gei&#x017F;tiges Bewußt&#x017F;eyn) ge-<lb/>
bunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen<lb/>
Gei&#x017F;tes, der Gei&#x017F;t durchaus um&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en von der Welt,<lb/>
dem Tempel Gottes.</p><lb/>
            <p>Fa&#x017F;&#x017F;en wir nun darnach auch <hi rendition="#g">die Be&#x017F;timmung<lb/>
des Men&#x017F;chen</hi>, &#x017F;o tritt dabei der&#x017F;elbige Fall ein,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">5*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0079] Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung. aber uͤberall durch bloßes Aneinanderknuͤpfen zweier Endpunkte der Mittelpunkt nicht hergeſtellt wird, ſo reicht es auch hier nicht zu, die beiden Abſtracta bloß aneinander zu reihen, um den Begriff vollſtaͤndig zu faſſen: es iſt vielmehr ſehr wohl zu beruͤckſichtigen, daß die beiden Elemente ſich durchdringen, und Ein drittes aus beiden zuſammengeſetztes Ganze bilden, deſſen Zu- ſammenſetzung ſelbſt nicht weiter erfaßt und verſtanden werden kann, ſo daß ſich kein Punkt angeben laͤßt, von dem man ſagen moͤchte: da hoͤre die Thierheit auf und fange die Vernunft an; oder umgekehrt: da hoͤre die Vernunft auf und fange die Thierheit an. Nach dieſer Forderung den Begriff des Men- ſen aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu oft erinnert werden kann, daß der Menſch nicht nur weder Vernunft allein noch Thier allein, ſondern auch nicht beides nebeneinander, ſondern durch- aus beides als Eines, und inſofern uͤberhaupt weder Vernunft, noch Thier, ſondern ein Drittes aus beiden, durch Vernunft modificirte Thier- heit und durch Thierheit modificirte Ver- nunft, ſey; die Vernunft in ihm durchaus an Thier- heit (an ſinnliches Bewußtſeyn), und Thierheit durch- aus an Vernunft (an rein geiſtiges Bewußtſeyn) ge- bunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen Geiſtes, der Geiſt durchaus umſchloſſen von der Welt, dem Tempel Gottes. Faſſen wir nun darnach auch die Beſtimmung des Menſchen, ſo tritt dabei derſelbige Fall ein, 5*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/79
Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/79>, abgerufen am 22.11.2024.