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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Von d. Grunds. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
erst eine Predigt von den Gründen sich zu halten hat,
wird sicher mehr im Leben schwatzen als handeln. Zum
Sophisten? -- O ja! Glaubt mir nur; wenn das
Kind erst eine Fertigkeit darinn erlangt hat, die Mo-
tive seiner Handlungen in Verstandesgründe (meistens
von den nützlichen oder schädlichen Folgen der Hand-
lungen hergenommen) aufzulösen, wird es bald für
alles, was es gern thun oder nicht thun möchte, reich
genug an Scheingründen seyn, womit es euch selbst oft
in Verlegenheit setzen wird. Und durch euer eignes
Beispiel, da ihr öfters in den Fall kommet, dem Kin-
de nicht den wahren, wenigstens nicht den ganzen
Grund eurer Gebote sagen zu können, wird es in die-
sem Fehler nur noch mehr bestärkt, sobald es sich nur
einmal von euch in den Gründen getäuscht gefunden
hat. Zum Heuchler? -- Allerdings auch dahin kann,
besonders bei einem versteckten Charakter, das frühzei-
tige Räsonniren über die Beweggründe des Handelns
verführen; das Kind lernt bald seines Herzens Triebe
in ein günstiges Licht stellen, und selbst unlautere Zwe-
cke mit lauteren Gründen bemänteln, mit denen es
Andere und bisweilen auch sich selbst täuscht.

Doch, für meinen Zweck ist es hier hinreichend,
den Nachtheil wenigstens angedeutet zu haben, den
die zu frühe Erweckung des Urtheils bei dem Kinde
nicht bloß in intellectueller, sondern auch sogar in mo-
ralischer Hinsicht hervorbringen kann. Nachdem da-
durch vorläufig auf eine der nachtheiligsten Anwendun-
gen des obigen philanthropinischen Grundsatzes auf-

Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
erſt eine Predigt von den Gruͤnden ſich zu halten hat,
wird ſicher mehr im Leben ſchwatzen als handeln. Zum
Sophiſten? — O ja! Glaubt mir nur; wenn das
Kind erſt eine Fertigkeit darinn erlangt hat, die Mo-
tive ſeiner Handlungen in Verſtandesgruͤnde (meiſtens
von den nuͤtzlichen oder ſchaͤdlichen Folgen der Hand-
lungen hergenommen) aufzuloͤſen, wird es bald fuͤr
alles, was es gern thun oder nicht thun moͤchte, reich
genug an Scheingruͤnden ſeyn, womit es euch ſelbſt oft
in Verlegenheit ſetzen wird. Und durch euer eignes
Beiſpiel, da ihr oͤfters in den Fall kommet, dem Kin-
de nicht den wahren, wenigſtens nicht den ganzen
Grund eurer Gebote ſagen zu koͤnnen, wird es in die-
ſem Fehler nur noch mehr beſtaͤrkt, ſobald es ſich nur
einmal von euch in den Gruͤnden getaͤuſcht gefunden
hat. Zum Heuchler? — Allerdings auch dahin kann,
beſonders bei einem verſteckten Charakter, das fruͤhzei-
tige Raͤſonniren uͤber die Beweggruͤnde des Handelns
verfuͤhren; das Kind lernt bald ſeines Herzens Triebe
in ein guͤnſtiges Licht ſtellen, und ſelbſt unlautere Zwe-
cke mit lauteren Gruͤnden bemaͤnteln, mit denen es
Andere und bisweilen auch ſich ſelbſt taͤuſcht.

Doch, fuͤr meinen Zweck iſt es hier hinreichend,
den Nachtheil wenigſtens angedeutet zu haben, den
die zu fruͤhe Erweckung des Urtheils bei dem Kinde
nicht bloß in intellectueller, ſondern auch ſogar in mo-
raliſcher Hinſicht hervorbringen kann. Nachdem da-
durch vorlaͤufig auf eine der nachtheiligſten Anwendun-
gen des obigen philanthropiniſchen Grundſatzes auf-

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[281/0293] Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem. erſt eine Predigt von den Gruͤnden ſich zu halten hat, wird ſicher mehr im Leben ſchwatzen als handeln. Zum Sophiſten? — O ja! Glaubt mir nur; wenn das Kind erſt eine Fertigkeit darinn erlangt hat, die Mo- tive ſeiner Handlungen in Verſtandesgruͤnde (meiſtens von den nuͤtzlichen oder ſchaͤdlichen Folgen der Hand- lungen hergenommen) aufzuloͤſen, wird es bald fuͤr alles, was es gern thun oder nicht thun moͤchte, reich genug an Scheingruͤnden ſeyn, womit es euch ſelbſt oft in Verlegenheit ſetzen wird. Und durch euer eignes Beiſpiel, da ihr oͤfters in den Fall kommet, dem Kin- de nicht den wahren, wenigſtens nicht den ganzen Grund eurer Gebote ſagen zu koͤnnen, wird es in die- ſem Fehler nur noch mehr beſtaͤrkt, ſobald es ſich nur einmal von euch in den Gruͤnden getaͤuſcht gefunden hat. Zum Heuchler? — Allerdings auch dahin kann, beſonders bei einem verſteckten Charakter, das fruͤhzei- tige Raͤſonniren uͤber die Beweggruͤnde des Handelns verfuͤhren; das Kind lernt bald ſeines Herzens Triebe in ein guͤnſtiges Licht ſtellen, und ſelbſt unlautere Zwe- cke mit lauteren Gruͤnden bemaͤnteln, mit denen es Andere und bisweilen auch ſich ſelbſt taͤuſcht. Doch, fuͤr meinen Zweck iſt es hier hinreichend, den Nachtheil wenigſtens angedeutet zu haben, den die zu fruͤhe Erweckung des Urtheils bei dem Kinde nicht bloß in intellectueller, ſondern auch ſogar in mo- raliſcher Hinſicht hervorbringen kann. Nachdem da- durch vorlaͤufig auf eine der nachtheiligſten Anwendun- gen des obigen philanthropiniſchen Grundſatzes auf-

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/293>, abgerufen am 20.05.2024.