Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite
Dritter Abschnitt.

Könnten wir denn verständigerweise, wenn auch
das ganze System des Wissens vollendet da stände, als
Grundsatz der wahren Methode aufstellen, den Unter-
richt beim höchsten Princip anzufangen? Wie wenig
muß doch der, dem dieser Weg der rechte dünken
könnte, die Natur des Geistes und seiner Entwickelung
kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge-
meinen an; die natürliche Ordnung führt zuerst auf
das Einzelne und Besondre, und fordert erst an diesem
und durch dieses das Höhere und Allgemeinere; der
Trieb, das Aehnliche zu suchen (der Trieb der Syn-
thesis), ist früher als der Trieb, die Unterschiede zu
erkennen (der Trieb der Analysis). Die Erkenntniß ist
in ihrem Entstehen nur auf bestimmtes Einzelnes ge-
richtet, und geht erst später zunächst auf eine Ver-
knüpfung der Dinge ihrem äußeren Zusammenhang nach,
und dann erst auf Erforschung ihres inneren Wesens
und auf eine Vereinigung derselben ihrem inneren Zu-
sammenhang nach. Diese Ordnung der stufenweise sich
entwickelnden Erkenntniß, wie sie sich auch in der Ge-
schichte der Entwickelung des menschlichen Geistes zeigt,
läßt sich nicht willkürlich umändern.

Man kann dagegen etwa noch einwenden: "diesen
Gang mußte die Entwickelung der menschlichen Erkennt-
niß überhaupt nehmen, um unser Geschlecht zu der Ein-
heit des Wissens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch
zu führen, von dem wir die ganze Sphäre der Erkennt-
niß überschauen und beherrschen; nachdem aber der
menschliche Geist jene Höhe der Erkenntniß einmal er-

Dritter Abſchnitt.

Koͤnnten wir denn verſtaͤndigerweiſe, wenn auch
das ganze Syſtem des Wiſſens vollendet da ſtaͤnde, als
Grundſatz der wahren Methode aufſtellen, den Unter-
richt beim hoͤchſten Princip anzufangen? Wie wenig
muß doch der, dem dieſer Weg der rechte duͤnken
koͤnnte, die Natur des Geiſtes und ſeiner Entwickelung
kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge-
meinen an; die natuͤrliche Ordnung fuͤhrt zuerſt auf
das Einzelne und Beſondre, und fordert erſt an dieſem
und durch dieſes das Hoͤhere und Allgemeinere; der
Trieb, das Aehnliche zu ſuchen (der Trieb der Syn-
theſis), iſt fruͤher als der Trieb, die Unterſchiede zu
erkennen (der Trieb der Analyſis). Die Erkenntniß iſt
in ihrem Entſtehen nur auf beſtimmtes Einzelnes ge-
richtet, und geht erſt ſpaͤter zunaͤchſt auf eine Ver-
knuͤpfung der Dinge ihrem aͤußeren Zuſammenhang nach,
und dann erſt auf Erforſchung ihres inneren Weſens
und auf eine Vereinigung derſelben ihrem inneren Zu-
ſammenhang nach. Dieſe Ordnung der ſtufenweiſe ſich
entwickelnden Erkenntniß, wie ſie ſich auch in der Ge-
ſchichte der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes zeigt,
laͤßt ſich nicht willkuͤrlich umaͤndern.

Man kann dagegen etwa noch einwenden: „dieſen
Gang mußte die Entwickelung der menſchlichen Erkennt-
niß uͤberhaupt nehmen, um unſer Geſchlecht zu der Ein-
heit des Wiſſens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch
zu fuͤhren, von dem wir die ganze Sphaͤre der Erkennt-
niß uͤberſchauen und beherrſchen; nachdem aber der
menſchliche Geiſt jene Hoͤhe der Erkenntniß einmal er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0276" n="264"/>
                  <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dritter Ab&#x017F;chnitt</hi>.</fw><lb/>
                  <p>Ko&#x0364;nnten wir denn ver&#x017F;ta&#x0364;ndigerwei&#x017F;e, wenn auch<lb/>
das ganze Sy&#x017F;tem des Wi&#x017F;&#x017F;ens vollendet da &#x017F;ta&#x0364;nde, als<lb/>
Grund&#x017F;atz der wahren Methode auf&#x017F;tellen, den Unter-<lb/>
richt beim ho&#x0364;ch&#x017F;ten Princip anzufangen? Wie wenig<lb/>
muß doch der, dem die&#x017F;er Weg der rechte du&#x0364;nken<lb/>
ko&#x0364;nnte, die Natur des Gei&#x017F;tes und &#x017F;einer Entwickelung<lb/>
kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge-<lb/>
meinen an; die natu&#x0364;rliche Ordnung fu&#x0364;hrt zuer&#x017F;t auf<lb/>
das Einzelne und Be&#x017F;ondre, und fordert er&#x017F;t an die&#x017F;em<lb/>
und durch die&#x017F;es das Ho&#x0364;here und Allgemeinere; der<lb/>
Trieb, das Aehnliche zu &#x017F;uchen (der Trieb der Syn-<lb/>
the&#x017F;is), i&#x017F;t fru&#x0364;her als der Trieb, die Unter&#x017F;chiede zu<lb/>
erkennen (der Trieb der Analy&#x017F;is). Die Erkenntniß i&#x017F;t<lb/>
in ihrem Ent&#x017F;tehen nur auf be&#x017F;timmtes Einzelnes ge-<lb/>
richtet, und geht er&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;ter zuna&#x0364;ch&#x017F;t auf eine Ver-<lb/>
knu&#x0364;pfung der Dinge ihrem a&#x0364;ußeren Zu&#x017F;ammenhang nach,<lb/>
und dann er&#x017F;t auf Erfor&#x017F;chung ihres inneren We&#x017F;ens<lb/>
und auf eine Vereinigung der&#x017F;elben ihrem inneren Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang nach. Die&#x017F;e Ordnung der &#x017F;tufenwei&#x017F;e &#x017F;ich<lb/>
entwickelnden Erkenntniß, wie &#x017F;ie &#x017F;ich auch in der Ge-<lb/>
&#x017F;chichte der Entwickelung des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes zeigt,<lb/>
la&#x0364;ßt &#x017F;ich nicht willku&#x0364;rlich uma&#x0364;ndern.</p><lb/>
                  <p>Man kann dagegen etwa noch einwenden: &#x201E;die&#x017F;en<lb/>
Gang mußte die Entwickelung der men&#x017F;chlichen Erkennt-<lb/>
niß u&#x0364;berhaupt nehmen, um un&#x017F;er Ge&#x017F;chlecht zu der Ein-<lb/>
heit des Wi&#x017F;&#x017F;ens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch<lb/>
zu fu&#x0364;hren, von dem wir die ganze Spha&#x0364;re der Erkennt-<lb/>
niß u&#x0364;ber&#x017F;chauen und beherr&#x017F;chen; nachdem aber der<lb/>
men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t jene Ho&#x0364;he der Erkenntniß einmal er-<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0276] Dritter Abſchnitt. Koͤnnten wir denn verſtaͤndigerweiſe, wenn auch das ganze Syſtem des Wiſſens vollendet da ſtaͤnde, als Grundſatz der wahren Methode aufſtellen, den Unter- richt beim hoͤchſten Princip anzufangen? Wie wenig muß doch der, dem dieſer Weg der rechte duͤnken koͤnnte, die Natur des Geiſtes und ſeiner Entwickelung kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge- meinen an; die natuͤrliche Ordnung fuͤhrt zuerſt auf das Einzelne und Beſondre, und fordert erſt an dieſem und durch dieſes das Hoͤhere und Allgemeinere; der Trieb, das Aehnliche zu ſuchen (der Trieb der Syn- theſis), iſt fruͤher als der Trieb, die Unterſchiede zu erkennen (der Trieb der Analyſis). Die Erkenntniß iſt in ihrem Entſtehen nur auf beſtimmtes Einzelnes ge- richtet, und geht erſt ſpaͤter zunaͤchſt auf eine Ver- knuͤpfung der Dinge ihrem aͤußeren Zuſammenhang nach, und dann erſt auf Erforſchung ihres inneren Weſens und auf eine Vereinigung derſelben ihrem inneren Zu- ſammenhang nach. Dieſe Ordnung der ſtufenweiſe ſich entwickelnden Erkenntniß, wie ſie ſich auch in der Ge- ſchichte der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes zeigt, laͤßt ſich nicht willkuͤrlich umaͤndern. Man kann dagegen etwa noch einwenden: „dieſen Gang mußte die Entwickelung der menſchlichen Erkennt- niß uͤberhaupt nehmen, um unſer Geſchlecht zu der Ein- heit des Wiſſens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch zu fuͤhren, von dem wir die ganze Sphaͤre der Erkennt- niß uͤberſchauen und beherrſchen; nachdem aber der menſchliche Geiſt jene Hoͤhe der Erkenntniß einmal er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/276
Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/276>, abgerufen am 18.05.2024.