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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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Die Feyer der Leiden und des
Todes Jesu.


Größe der Leiden Jesu.

Es ist sehr wahr, und alle weise und einsichts-
volle Lehrer des Christenthums wiederholen
es oft, daß die bloß sinnliche Empfindung und
Rührung von den Leiden unsers Erlösers, ein sehr
verdächtiges Zeugniß eines wahren Christenthums,
und eines Gott und dem großen Leidenden wahr-
haftig ergebnen Herzens sey. Denn sie beweist
nichts, als daß wir nicht unmenschlich, nicht ge-
fühllos bey den Qualen eines Mitgeschöpfs sind; sie
hat mit dem Zustande, in dem wir uns bey dem
Anblicke andrer Martern, oder bey der Hinrichtung
eines vielleicht sehr schuldigen Missethäters befin-
den, alles gemein, bis auf den Gegenstand. Ihre
Stärke und Schwäche ist fast ganz abhängig von
der größeren oder geringeren Lebhaftigkeit unsers
Temperaments, und muß nothwendig mit den
Jahren abnehmen. Hingegen beweist sie noch lange
nicht, daß wir fühlen, und mit deutlicher Vorstel-

lung


Die Feyer der Leiden und des
Todes Jeſu.


Größe der Leiden Jeſu.

Es iſt ſehr wahr, und alle weiſe und einſichts-
volle Lehrer des Chriſtenthums wiederholen
es oft, daß die bloß ſinnliche Empfindung und
Rührung von den Leiden unſers Erlöſers, ein ſehr
verdächtiges Zeugniß eines wahren Chriſtenthums,
und eines Gott und dem großen Leidenden wahr-
haftig ergebnen Herzens ſey. Denn ſie beweiſt
nichts, als daß wir nicht unmenſchlich, nicht ge-
fühllos bey den Qualen eines Mitgeſchöpfs ſind; ſie
hat mit dem Zuſtande, in dem wir uns bey dem
Anblicke andrer Martern, oder bey der Hinrichtung
eines vielleicht ſehr ſchuldigen Miſſethäters befin-
den, alles gemein, bis auf den Gegenſtand. Ihre
Stärke und Schwäche iſt faſt ganz abhängig von
der größeren oder geringeren Lebhaftigkeit unſers
Temperaments, und muß nothwendig mit den
Jahren abnehmen. Hingegen beweiſt ſie noch lange
nicht, daß wir fühlen, und mit deutlicher Vorſtel-

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[116[128]/0132] Die Feyer der Leiden und des Todes Jeſu. Größe der Leiden Jeſu. Es iſt ſehr wahr, und alle weiſe und einſichts- volle Lehrer des Chriſtenthums wiederholen es oft, daß die bloß ſinnliche Empfindung und Rührung von den Leiden unſers Erlöſers, ein ſehr verdächtiges Zeugniß eines wahren Chriſtenthums, und eines Gott und dem großen Leidenden wahr- haftig ergebnen Herzens ſey. Denn ſie beweiſt nichts, als daß wir nicht unmenſchlich, nicht ge- fühllos bey den Qualen eines Mitgeſchöpfs ſind; ſie hat mit dem Zuſtande, in dem wir uns bey dem Anblicke andrer Martern, oder bey der Hinrichtung eines vielleicht ſehr ſchuldigen Miſſethäters befin- den, alles gemein, bis auf den Gegenſtand. Ihre Stärke und Schwäche iſt faſt ganz abhängig von der größeren oder geringeren Lebhaftigkeit unſers Temperaments, und muß nothwendig mit den Jahren abnehmen. Hingegen beweiſt ſie noch lange nicht, daß wir fühlen, und mit deutlicher Vorſtel- lung

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 116[128]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/132>, abgerufen am 22.11.2024.