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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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ihre Tugend, deren Reichthum ihr Fleiß, und de-
ren Verdienst ihre Frömmigkeit ist. Ein Joseph,
ein Mann von großer Herzensgüte; eine stillglau-
bende, unbekannte Maria; und Hirten der benach-
barten Flur, ohne Anmaßung und Glanz -- die,
die sinds, die Gott erwählt; die Unmündigen,
denen er es offenbart, indeß es verborgen ist der
stolzen Heiligkeit heuchlender Pharisäer, der zweifel-
süchtigen Weisheit der Sadducäer, und der trunk-
nen Hoheit der Fürsten und Aeltesten von Jeru-
salem.

So war es vor je her! Immer fand man
das meiste Gefühl für Gott und was Er thut, die
meiste Offenheit der Seele für Unterricht und Be-
lehrung, die wärmste Theilnehmung an dem, was
gut und edel ist, unter denen Menschen, die in einer
gewissen Mittelmäßigkeit des Lebens, nicht durch
Hoheit und Größe geblendet und verdorben waren,
und nicht, durch trägen Müßiggang zur verschul-
deten Armuth herabgesunken, alles Gefühl ihrer
Menschenwürde verloren hatten. Sie leben viel
mehr als andre in der wahren Welt, wo Vorur-
theile und täuschender Schein die Urtheile über den
Werth der Dinge noch nicht verrückt haben. Denn
die Gewohnheit macht uns selbst das, was wir im

Anfang

ihre Tugend, deren Reichthum ihr Fleiß, und de-
ren Verdienſt ihre Frömmigkeit iſt. Ein Joſeph,
ein Mann von großer Herzensgüte; eine ſtillglau-
bende, unbekannte Maria; und Hirten der benach-
barten Flur, ohne Anmaßung und Glanz — die,
die ſinds, die Gott erwählt; die Unmündigen,
denen er es offenbart, indeß es verborgen iſt der
ſtolzen Heiligkeit heuchlender Phariſäer, der zweifel-
ſüchtigen Weisheit der Sadducäer, und der trunk-
nen Hoheit der Fürſten und Aelteſten von Jeru-
ſalem.

So war es vor je her! Immer fand man
das meiſte Gefühl für Gott und was Er thut, die
meiſte Offenheit der Seele für Unterricht und Be-
lehrung, die wärmſte Theilnehmung an dem, was
gut und edel iſt, unter denen Menſchen, die in einer
gewiſſen Mittelmäßigkeit des Lebens, nicht durch
Hoheit und Größe geblendet und verdorben waren,
und nicht, durch trägen Müßiggang zur verſchul-
deten Armuth herabgeſunken, alles Gefühl ihrer
Menſchenwürde verloren hatten. Sie leben viel
mehr als andre in der wahren Welt, wo Vorur-
theile und täuſchender Schein die Urtheile über den
Werth der Dinge noch nicht verrückt haben. Denn
die Gewohnheit macht uns ſelbſt das, was wir im

Anfang
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[91[103]/0107] ihre Tugend, deren Reichthum ihr Fleiß, und de- ren Verdienſt ihre Frömmigkeit iſt. Ein Joſeph, ein Mann von großer Herzensgüte; eine ſtillglau- bende, unbekannte Maria; und Hirten der benach- barten Flur, ohne Anmaßung und Glanz — die, die ſinds, die Gott erwählt; die Unmündigen, denen er es offenbart, indeß es verborgen iſt der ſtolzen Heiligkeit heuchlender Phariſäer, der zweifel- ſüchtigen Weisheit der Sadducäer, und der trunk- nen Hoheit der Fürſten und Aelteſten von Jeru- ſalem. So war es vor je her! Immer fand man das meiſte Gefühl für Gott und was Er thut, die meiſte Offenheit der Seele für Unterricht und Be- lehrung, die wärmſte Theilnehmung an dem, was gut und edel iſt, unter denen Menſchen, die in einer gewiſſen Mittelmäßigkeit des Lebens, nicht durch Hoheit und Größe geblendet und verdorben waren, und nicht, durch trägen Müßiggang zur verſchul- deten Armuth herabgeſunken, alles Gefühl ihrer Menſchenwürde verloren hatten. Sie leben viel mehr als andre in der wahren Welt, wo Vorur- theile und täuſchender Schein die Urtheile über den Werth der Dinge noch nicht verrückt haben. Denn die Gewohnheit macht uns ſelbſt das, was wir im Anfang

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 91[103]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/107>, abgerufen am 24.11.2024.