Rom allein verdankte es dem Charakter seines Volks daß die schrecklichste aller Gährungen zum zweytenmal gesetz- liche Freyheit tiefer und in größerem Umfang begründete. Was Zerstörung der Verfassung drohte heilte ihre innere Krankheit, und die Republik erreichte jenen Zustand, wel- cher bey der Hinfälligkeit menschlicher Dinge, wie eine ähnliche Stufe für unser Glück, vielleicht der wohlthä- tigste ist: -- wo die Verfassung nur noch um einen Schritt von der Vollendung entfernt war, mit deren Ausbildung unmittelbar Entartung zu dem entgegengesetzten Verfall beginnen mußte, -- wenn auch ungeahndet, und wenn auch, durch die Vortrefflichkeit der Sitten, die Verfassung praktisch noch mehrere Menschenalter hindurch nicht ver- schlechtert schien; bis auf einmal der ausgehöhlte Boden unter ihr brach.
Leicht trösten wir uns über die Mangelhaftigkeit, selbst über die Mährchen veralteter Kriegsgeschichte: aber die Verfälschung, und die absichtlicher Verstümmelung gleichende Dürftigkeit dieser bürgerlichen Geschichte ist ein unersetzlicher Verlust.
Die Verschiedenheit des Privatrechts zwischen den Ständen war in Hinsicht zahlungsunfähiger Schuldner durch die zwölf Tafeln nicht gehoben. Das Recht der Schuldknechtschaft bestand schon bey dem ersten Aufstand nur für die Plebejer, und als es abgeschafft ward begann für sie eine neue Freyheit 2). Die Gesetzgebung der
2)Eo anno plebi Romanoe velut aliud initium libertatis fac- tum est quod nuti desierunt. Livius VIII. c. 28. Die Freyheit der Patricier (antiquissimi cives, Cicero) war,
Rom allein verdankte es dem Charakter ſeines Volks daß die ſchrecklichſte aller Gaͤhrungen zum zweytenmal geſetz- liche Freyheit tiefer und in groͤßerem Umfang begruͤndete. Was Zerſtoͤrung der Verfaſſung drohte heilte ihre innere Krankheit, und die Republik erreichte jenen Zuſtand, wel- cher bey der Hinfaͤlligkeit menſchlicher Dinge, wie eine aͤhnliche Stufe fuͤr unſer Gluͤck, vielleicht der wohlthaͤ- tigſte iſt: — wo die Verfaſſung nur noch um einen Schritt von der Vollendung entfernt war, mit deren Ausbildung unmittelbar Entartung zu dem entgegengeſetzten Verfall beginnen mußte, — wenn auch ungeahndet, und wenn auch, durch die Vortrefflichkeit der Sitten, die Verfaſſung praktiſch noch mehrere Menſchenalter hindurch nicht ver- ſchlechtert ſchien; bis auf einmal der ausgehoͤhlte Boden unter ihr brach.
Leicht troͤſten wir uns uͤber die Mangelhaftigkeit, ſelbſt uͤber die Maͤhrchen veralteter Kriegsgeſchichte: aber die Verfaͤlſchung, und die abſichtlicher Verſtuͤmmelung gleichende Duͤrftigkeit dieſer buͤrgerlichen Geſchichte iſt ein unerſetzlicher Verluſt.
Die Verſchiedenheit des Privatrechts zwiſchen den Staͤnden war in Hinſicht zahlungsunfaͤhiger Schuldner durch die zwoͤlf Tafeln nicht gehoben. Das Recht der Schuldknechtſchaft beſtand ſchon bey dem erſten Aufſtand nur fuͤr die Plebejer, und als es abgeſchafft ward begann fuͤr ſie eine neue Freyheit 2). Die Geſetzgebung der
2)Eo anno plebi Romanœ velut aliud initium libertatis fac- tum est quod nuti desierunt. Livius VIII. c. 28. Die Freyheit der Patricier (antiquissimi cives, Cicero) war,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0326"n="310"/>
Rom allein verdankte es dem Charakter ſeines Volks daß<lb/>
die ſchrecklichſte aller Gaͤhrungen zum zweytenmal geſetz-<lb/>
liche Freyheit tiefer und in groͤßerem Umfang begruͤndete.<lb/>
Was Zerſtoͤrung der Verfaſſung drohte heilte ihre innere<lb/>
Krankheit, und die Republik erreichte jenen Zuſtand, wel-<lb/>
cher bey der Hinfaͤlligkeit menſchlicher Dinge, wie eine<lb/>
aͤhnliche Stufe fuͤr unſer Gluͤck, vielleicht der wohlthaͤ-<lb/>
tigſte iſt: — wo die Verfaſſung nur noch um einen Schritt<lb/>
von der Vollendung entfernt war, mit deren Ausbildung<lb/>
unmittelbar Entartung zu dem entgegengeſetzten Verfall<lb/>
beginnen mußte, — wenn auch ungeahndet, und wenn auch,<lb/>
durch die Vortrefflichkeit der Sitten, die Verfaſſung<lb/>
praktiſch noch mehrere Menſchenalter hindurch nicht ver-<lb/>ſchlechtert ſchien; bis auf einmal der ausgehoͤhlte Boden<lb/>
unter ihr brach.</p><lb/><p>Leicht troͤſten wir uns uͤber die Mangelhaftigkeit,<lb/>ſelbſt uͤber die Maͤhrchen veralteter Kriegsgeſchichte: aber<lb/>
die Verfaͤlſchung, und die abſichtlicher Verſtuͤmmelung<lb/>
gleichende Duͤrftigkeit dieſer buͤrgerlichen Geſchichte iſt<lb/>
ein unerſetzlicher Verluſt.</p><lb/><p>Die Verſchiedenheit des Privatrechts zwiſchen den<lb/>
Staͤnden war in Hinſicht zahlungsunfaͤhiger Schuldner<lb/>
durch die zwoͤlf Tafeln nicht gehoben. Das Recht der<lb/>
Schuldknechtſchaft beſtand ſchon bey dem erſten Aufſtand<lb/>
nur fuͤr die Plebejer, und als es abgeſchafft ward begann<lb/>
fuͤr <hirendition="#g">ſie</hi> eine neue Freyheit <notexml:id="note-0326"next="#note-0327"place="foot"n="2)"><hirendition="#aq">Eo anno <hirendition="#i">plebi Romanœ</hi> velut <hirendition="#i">aliud initium libertatis</hi> fac-<lb/>
tum est quod nuti desierunt.</hi> Livius <hirendition="#aq">VIII. c.</hi> 28. Die<lb/>
Freyheit der Patricier (<hirendition="#aq">antiquissimi cives,</hi> Cicero) war,</note>. Die Geſetzgebung der<lb/></p></div></body></text></TEI>
[310/0326]
Rom allein verdankte es dem Charakter ſeines Volks daß
die ſchrecklichſte aller Gaͤhrungen zum zweytenmal geſetz-
liche Freyheit tiefer und in groͤßerem Umfang begruͤndete.
Was Zerſtoͤrung der Verfaſſung drohte heilte ihre innere
Krankheit, und die Republik erreichte jenen Zuſtand, wel-
cher bey der Hinfaͤlligkeit menſchlicher Dinge, wie eine
aͤhnliche Stufe fuͤr unſer Gluͤck, vielleicht der wohlthaͤ-
tigſte iſt: — wo die Verfaſſung nur noch um einen Schritt
von der Vollendung entfernt war, mit deren Ausbildung
unmittelbar Entartung zu dem entgegengeſetzten Verfall
beginnen mußte, — wenn auch ungeahndet, und wenn auch,
durch die Vortrefflichkeit der Sitten, die Verfaſſung
praktiſch noch mehrere Menſchenalter hindurch nicht ver-
ſchlechtert ſchien; bis auf einmal der ausgehoͤhlte Boden
unter ihr brach.
Leicht troͤſten wir uns uͤber die Mangelhaftigkeit,
ſelbſt uͤber die Maͤhrchen veralteter Kriegsgeſchichte: aber
die Verfaͤlſchung, und die abſichtlicher Verſtuͤmmelung
gleichende Duͤrftigkeit dieſer buͤrgerlichen Geſchichte iſt
ein unerſetzlicher Verluſt.
Die Verſchiedenheit des Privatrechts zwiſchen den
Staͤnden war in Hinſicht zahlungsunfaͤhiger Schuldner
durch die zwoͤlf Tafeln nicht gehoben. Das Recht der
Schuldknechtſchaft beſtand ſchon bey dem erſten Aufſtand
nur fuͤr die Plebejer, und als es abgeſchafft ward begann
fuͤr ſie eine neue Freyheit 2). Die Geſetzgebung der
2) Eo anno plebi Romanœ velut aliud initium libertatis fac-
tum est quod nuti desierunt. Livius VIII. c. 28. Die
Freyheit der Patricier (antiquissimi cives, Cicero) war,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/326>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.