Wohl ist es wahr daß die Sage Begebenheiten oft zusammendrängt, welche durch Jahrhunderte getrennt waren, und den ursprünglichen Anfang mit dem Aus- gang zusammenzieht, zu dem sich die Begebenheit durch eine langsame Folge vorwärts bewegt hat: wohl wäre es möglich daß der Pataviner, wenn er Nachrichten über die gallische Völkerwanderung suchte, genauere Sagen hätte entdecken können als Polybius zu Rom vernahm: obgleich es doch eine große und diesem ernsten Forscher sonst ganz fremde Nachlässigkeit wäre, wenn er sich, zweyhundert funfzig Jahre nach der Einnahme Roms, um zwey Jahr- hunderte über den Zeitpunkt der gallischen Einwanderung geirrt hätte. Aber Livius Zeitbestimmung beruht sichtbar auf einem Umstand den wir entdecken, und dessen Unan- wendbarkeit zu seinem Zweck wir zeigen können. Er nennt die Zeit der Regierung des alten Tarquinius weil er den Uebergang des Bellovesus über die Alpen mit einer histo- risch bestimmten Begebenheit verbindet, der Gründung von Massilia, welche allerdings in diese Zeit, nämlich in die 45ste Olympiade gehört 17). Aber diese Verbindung ist nichtig, denn hier wird angenommen die Salluvier hätten die Phokäer gehindert sich niederzulassen, und Bellovesus habe sich an die Küste gewandt, um den Segen der Götter durch ein gutes Werk an Fremdlin- gen zu verdienen, die, wie er, neue Sitze suchten, und ihm hätten sie sichre Niederlassung verdankt; da es doch aus einheimischen Massilischen Geschichten bekannt ist daß der König der Segobrigier, welcher an dieser Küste
17) Timäus bey Skymnus Chius, v. 210 -- 14.
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Wohl iſt es wahr daß die Sage Begebenheiten oft zuſammendraͤngt, welche durch Jahrhunderte getrennt waren, und den urſpruͤnglichen Anfang mit dem Aus- gang zuſammenzieht, zu dem ſich die Begebenheit durch eine langſame Folge vorwaͤrts bewegt hat: wohl waͤre es moͤglich daß der Pataviner, wenn er Nachrichten uͤber die galliſche Voͤlkerwanderung ſuchte, genauere Sagen haͤtte entdecken koͤnnen als Polybius zu Rom vernahm: obgleich es doch eine große und dieſem ernſten Forſcher ſonſt ganz fremde Nachlaͤſſigkeit waͤre, wenn er ſich, zweyhundert funfzig Jahre nach der Einnahme Roms, um zwey Jahr- hunderte uͤber den Zeitpunkt der galliſchen Einwanderung geirrt haͤtte. Aber Livius Zeitbeſtimmung beruht ſichtbar auf einem Umſtand den wir entdecken, und deſſen Unan- wendbarkeit zu ſeinem Zweck wir zeigen koͤnnen. Er nennt die Zeit der Regierung des alten Tarquinius weil er den Uebergang des Belloveſus uͤber die Alpen mit einer hiſto- riſch beſtimmten Begebenheit verbindet, der Gruͤndung von Maſſilia, welche allerdings in dieſe Zeit, naͤmlich in die 45ſte Olympiade gehoͤrt 17). Aber dieſe Verbindung iſt nichtig, denn hier wird angenommen die Salluvier haͤtten die Phokaͤer gehindert ſich niederzulaſſen, und Belloveſus habe ſich an die Kuͤſte gewandt, um den Segen der Goͤtter durch ein gutes Werk an Fremdlin- gen zu verdienen, die, wie er, neue Sitze ſuchten, und ihm haͤtten ſie ſichre Niederlaſſung verdankt; da es doch aus einheimiſchen Maſſiliſchen Geſchichten bekannt iſt daß der Koͤnig der Segobrigier, welcher an dieſer Kuͤſte
17) Timaͤus bey Skymnus Chius, v. 210 — 14.
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Wohl iſt es wahr daß die Sage Begebenheiten oft
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gang zuſammenzieht, zu dem ſich die Begebenheit durch
eine langſame Folge vorwaͤrts bewegt hat: wohl waͤre es
moͤglich daß der Pataviner, wenn er Nachrichten uͤber die
galliſche Voͤlkerwanderung ſuchte, genauere Sagen haͤtte
entdecken koͤnnen als Polybius zu Rom vernahm: obgleich
es doch eine große und dieſem ernſten Forſcher ſonſt ganz
fremde Nachlaͤſſigkeit waͤre, wenn er ſich, zweyhundert
funfzig Jahre nach der Einnahme Roms, um zwey Jahr-
hunderte uͤber den Zeitpunkt der galliſchen Einwanderung
geirrt haͤtte. Aber Livius Zeitbeſtimmung beruht ſichtbar
auf einem Umſtand den wir entdecken, und deſſen Unan-
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die Zeit der Regierung des alten Tarquinius weil er den
Uebergang des Belloveſus uͤber die Alpen mit einer hiſto-
riſch beſtimmten Begebenheit verbindet, der Gruͤndung
von Maſſilia, welche allerdings in dieſe Zeit, naͤmlich in
die 45ſte Olympiade gehoͤrt 17). Aber dieſe Verbindung
iſt nichtig, denn hier wird angenommen die Salluvier
haͤtten die Phokaͤer gehindert ſich niederzulaſſen, und
Belloveſus habe ſich an die Kuͤſte gewandt, um den
Segen der Goͤtter durch ein gutes Werk an Fremdlin-
gen zu verdienen, die, wie er, neue Sitze ſuchten, und
ihm haͤtten ſie ſichre Niederlaſſung verdankt; da es doch
aus einheimiſchen Maſſiliſchen Geſchichten bekannt iſt
daß der Koͤnig der Segobrigier, welcher an dieſer Kuͤſte
17) Timaͤus bey Skymnus Chius, v. 210 — 14.
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/275>, abgerufen am 24.11.2024.
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