Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

auch überall Römer und nicht Griechen waren 79). Sie
ist mir aber in ihrem Zusammenhang nicht minder zweifel-
haft als jene Sage selbst: man vergesse nicht daß nur eine
schaale Willkührlichkeit sie von dem eben so beglaubigten
Hervorbrechen im Tempel der Juno und dem Wunderzei-
chen der Göttin trennen kann. Daß der Schacht in dem
Tempel der Juno hervorgeht, ist nicht Zufall, sondern
Absicht.

Ich frage nun aber ob eine solche Leitung ohne Com-
paß nicht absolut unmöglich war, wenn auch der Gang
nicht, wie doch auch gesagt wird, und gedacht werden
muß, in einer weiten Entfernung 80) begonnen hätte.
Kaum die Stadt, nicht die Burg, geschweige den Tempel
zu erreichen hätte man sicher seyn können. Zwar ist der
Boden von Veji ein nicht schwer zu bearbeitender Tuf 81),
und der Gang hätte sich ohne Zimmerwerk erhalten kön-
nen: doch wäre es immer ein Werk so langsames Fort-
gangs gewesen, indem nur eine kleine Zahl nicht der
sechste Theil des Heers 82) darin hätte arbeiten können,
daß Camillus Dictatur nicht zur Vollendung hingereicht
haben würde: und die Vollendung hätte den Erfolg im-
mer von einem Zufall abhängig gelassen. In einem älte-
ren Zeitraum würde ich dies Dichterische ganz unerklärt
lassen: in dieser sonst schon historischen Zeit kann es schei-

79) Diodor XIV. c. 93. Boious exepoliorkesan, dioruga
kataskeuasantes.
80) Zonaras VII. c. 21.
81) Nach Hirts mündlicher Belehrung.
82) Denn das ist offenbar der Sinn der alten Sage, obwohl
Livius zweydeutig mildernde Ausdrücke sucht.

auch uͤberall Roͤmer und nicht Griechen waren 79). Sie
iſt mir aber in ihrem Zuſammenhang nicht minder zweifel-
haft als jene Sage ſelbſt: man vergeſſe nicht daß nur eine
ſchaale Willkuͤhrlichkeit ſie von dem eben ſo beglaubigten
Hervorbrechen im Tempel der Juno und dem Wunderzei-
chen der Goͤttin trennen kann. Daß der Schacht in dem
Tempel der Juno hervorgeht, iſt nicht Zufall, ſondern
Abſicht.

Ich frage nun aber ob eine ſolche Leitung ohne Com-
paß nicht abſolut unmoͤglich war, wenn auch der Gang
nicht, wie doch auch geſagt wird, und gedacht werden
muß, in einer weiten Entfernung 80) begonnen haͤtte.
Kaum die Stadt, nicht die Burg, geſchweige den Tempel
zu erreichen haͤtte man ſicher ſeyn koͤnnen. Zwar iſt der
Boden von Veji ein nicht ſchwer zu bearbeitender Tuf 81),
und der Gang haͤtte ſich ohne Zimmerwerk erhalten koͤn-
nen: doch waͤre es immer ein Werk ſo langſames Fort-
gangs geweſen, indem nur eine kleine Zahl nicht der
ſechſte Theil des Heers 82) darin haͤtte arbeiten koͤnnen,
daß Camillus Dictatur nicht zur Vollendung hingereicht
haben wuͤrde: und die Vollendung haͤtte den Erfolg im-
mer von einem Zufall abhaͤngig gelaſſen. In einem aͤlte-
ren Zeitraum wuͤrde ich dies Dichteriſche ganz unerklaͤrt
laſſen: in dieſer ſonſt ſchon hiſtoriſchen Zeit kann es ſchei-

79) Diodor XIV. c. 93. Βοιοὺς ἐξεπολιόρκησαν, διώρυγα
κατασκευάσαντες.
80) Zonaras VII. c. 21.
81) Nach Hirts muͤndlicher Belehrung.
82) Denn das iſt offenbar der Sinn der alten Sage, obwohl
Livius zweydeutig mildernde Ausdruͤcke ſucht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0252" n="236"/>
auch u&#x0364;berall Ro&#x0364;mer und nicht Griechen waren <note place="foot" n="79)">Diodor <hi rendition="#aq">XIV. c.</hi> 93. &#x0392;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BF;&#x1F7A;&#x03C2; &#x1F10;&#x03BE;&#x03B5;&#x03C0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03B9;&#x03CC;&#x03C1;&#x03BA;&#x03B7;&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD;, &#x03B4;&#x03B9;&#x03CE;&#x03C1;&#x03C5;&#x03B3;&#x03B1;<lb/>
&#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03C3;&#x03BA;&#x03B5;&#x03C5;&#x03AC;&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2;.</note>. Sie<lb/>
i&#x017F;t mir aber in ihrem Zu&#x017F;ammenhang nicht minder zweifel-<lb/>
haft als jene Sage &#x017F;elb&#x017F;t: man verge&#x017F;&#x017F;e nicht daß nur eine<lb/>
&#x017F;chaale Willku&#x0364;hrlichkeit &#x017F;ie von dem eben &#x017F;o beglaubigten<lb/>
Hervorbrechen im Tempel der Juno und dem Wunderzei-<lb/>
chen der Go&#x0364;ttin trennen kann. Daß der Schacht in dem<lb/>
Tempel der Juno hervorgeht, i&#x017F;t nicht Zufall, &#x017F;ondern<lb/>
Ab&#x017F;icht.</p><lb/>
        <p>Ich frage nun aber ob eine &#x017F;olche Leitung ohne Com-<lb/>
paß nicht ab&#x017F;olut unmo&#x0364;glich war, wenn auch der Gang<lb/>
nicht, wie doch auch ge&#x017F;agt wird, und gedacht werden<lb/>
muß, in einer weiten Entfernung <note place="foot" n="80)">Zonaras <hi rendition="#aq">VII. c.</hi> 21.</note> begonnen ha&#x0364;tte.<lb/>
Kaum die Stadt, nicht die Burg, ge&#x017F;chweige den Tempel<lb/>
zu erreichen ha&#x0364;tte man &#x017F;icher &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen. Zwar i&#x017F;t der<lb/>
Boden von Veji ein nicht &#x017F;chwer zu bearbeitender Tuf <note place="foot" n="81)">Nach Hirts mu&#x0364;ndlicher Belehrung.</note>,<lb/>
und der Gang ha&#x0364;tte &#x017F;ich ohne Zimmerwerk erhalten ko&#x0364;n-<lb/>
nen: doch wa&#x0364;re es immer ein Werk &#x017F;o lang&#x017F;ames Fort-<lb/>
gangs gewe&#x017F;en, indem nur eine kleine Zahl nicht der<lb/>
&#x017F;ech&#x017F;te Theil des Heers <note place="foot" n="82)">Denn das i&#x017F;t offenbar der Sinn der alten Sage, obwohl<lb/>
Livius zweydeutig mildernde Ausdru&#x0364;cke &#x017F;ucht.</note> darin ha&#x0364;tte arbeiten ko&#x0364;nnen,<lb/>
daß Camillus Dictatur nicht zur Vollendung hingereicht<lb/>
haben wu&#x0364;rde: und die Vollendung ha&#x0364;tte den Erfolg im-<lb/>
mer von einem Zufall abha&#x0364;ngig gela&#x017F;&#x017F;en. In einem a&#x0364;lte-<lb/>
ren Zeitraum wu&#x0364;rde ich dies Dichteri&#x017F;che ganz unerkla&#x0364;rt<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en: in die&#x017F;er &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;chon hi&#x017F;tori&#x017F;chen Zeit kann es &#x017F;chei-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0252] auch uͤberall Roͤmer und nicht Griechen waren 79). Sie iſt mir aber in ihrem Zuſammenhang nicht minder zweifel- haft als jene Sage ſelbſt: man vergeſſe nicht daß nur eine ſchaale Willkuͤhrlichkeit ſie von dem eben ſo beglaubigten Hervorbrechen im Tempel der Juno und dem Wunderzei- chen der Goͤttin trennen kann. Daß der Schacht in dem Tempel der Juno hervorgeht, iſt nicht Zufall, ſondern Abſicht. Ich frage nun aber ob eine ſolche Leitung ohne Com- paß nicht abſolut unmoͤglich war, wenn auch der Gang nicht, wie doch auch geſagt wird, und gedacht werden muß, in einer weiten Entfernung 80) begonnen haͤtte. Kaum die Stadt, nicht die Burg, geſchweige den Tempel zu erreichen haͤtte man ſicher ſeyn koͤnnen. Zwar iſt der Boden von Veji ein nicht ſchwer zu bearbeitender Tuf 81), und der Gang haͤtte ſich ohne Zimmerwerk erhalten koͤn- nen: doch waͤre es immer ein Werk ſo langſames Fort- gangs geweſen, indem nur eine kleine Zahl nicht der ſechſte Theil des Heers 82) darin haͤtte arbeiten koͤnnen, daß Camillus Dictatur nicht zur Vollendung hingereicht haben wuͤrde: und die Vollendung haͤtte den Erfolg im- mer von einem Zufall abhaͤngig gelaſſen. In einem aͤlte- ren Zeitraum wuͤrde ich dies Dichteriſche ganz unerklaͤrt laſſen: in dieſer ſonſt ſchon hiſtoriſchen Zeit kann es ſchei- 79) Diodor XIV. c. 93. Βοιοὺς ἐξεπολιόρκησαν, διώρυγα κατασκευάσαντες. 80) Zonaras VII. c. 21. 81) Nach Hirts muͤndlicher Belehrung. 82) Denn das iſt offenbar der Sinn der alten Sage, obwohl Livius zweydeutig mildernde Ausdruͤcke ſucht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/252
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/252>, abgerufen am 18.05.2024.