Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775."aus dem Kandidatenstande mitbringt; er würde, "wenn er die mannichfaltigen Einsichten und Ver- "dienste von Personen anderer Stände oft vor Augen "hätte, sich den Lehrerton abgewöhnen, der bey ver- "ständigen Leuten den Prediger nie würdiger macht, "oft aber wohl zur Zurückhaltung und zum Kaltsinn "Anlaß giebt; er würde, wenn er sich der Sitten, Be- "schäfftigungen, Vergnügungen, die andere Menschen "haben, nicht schämte, weit eher ihr Zutrauen er- "halten, er würde sie genauer kennen, und folglich "auch ihren Gemüthszustand besser beurtheilen lernen, "als wenn er bloß mit Leuten umgienge, die mit ihm "aus eben demselben Kompendium der theologischen "Moral raisonniren, in welchem nicht selten Dinge "als ausgemachte Wahrheiten behauptet werden, die "oft ein einziger Blick in die Natur des Menschen, "und in den Lauf der Welt, widerlegt.' ,Dieß waren die Vortheile, die ich mir von der "er
”aus dem Kandidatenſtande mitbringt; er wuͤrde, ”wenn er die mannichfaltigen Einſichten und Ver- ”dienſte von Perſonen anderer Staͤnde oft vor Augen ”haͤtte, ſich den Lehrerton abgewoͤhnen, der bey ver- ”ſtaͤndigen Leuten den Prediger nie wuͤrdiger macht, ”oft aber wohl zur Zuruͤckhaltung und zum Kaltſinn ”Anlaß giebt; er wuͤrde, wenn er ſich der Sitten, Be- ”ſchaͤfftigungen, Vergnuͤgungen, die andere Menſchen ”haben, nicht ſchaͤmte, weit eher ihr Zutrauen er- ”halten, er wuͤrde ſie genauer kennen, und folglich ”auch ihren Gemuͤthszuſtand beſſer beurtheilen lernen, ”als wenn er bloß mit Leuten umgienge, die mit ihm ”aus eben demſelben Kompendium der theologiſchen ”Moral raiſonniren, in welchem nicht ſelten Dinge ”als ausgemachte Wahrheiten behauptet werden, die ”oft ein einziger Blick in die Natur des Menſchen, ”und in den Lauf der Welt, widerlegt.‛ ‚Dieß waren die Vortheile, die ich mir von der ”er
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0061" n="55"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> ”aus dem Kandidatenſtande mitbringt; er wuͤrde,<lb/> ”wenn er die mannichfaltigen Einſichten und Ver-<lb/> ”dienſte von Perſonen anderer Staͤnde oft vor Augen<lb/> ”haͤtte, ſich den Lehrerton abgewoͤhnen, der bey ver-<lb/> ”ſtaͤndigen Leuten den Prediger nie wuͤrdiger macht,<lb/> ”oft aber wohl zur Zuruͤckhaltung und zum Kaltſinn<lb/> ”Anlaß giebt; er wuͤrde, wenn er ſich der Sitten, Be-<lb/> ”ſchaͤfftigungen, Vergnuͤgungen, die andere Menſchen<lb/> ”haben, nicht ſchaͤmte, weit eher ihr Zutrauen er-<lb/> ”halten, er wuͤrde ſie genauer kennen, und folglich<lb/> ”auch ihren Gemuͤthszuſtand beſſer beurtheilen lernen,<lb/> ”als wenn er bloß mit Leuten umgienge, die mit ihm<lb/> ”aus eben demſelben Kompendium der theologiſchen<lb/> ”Moral raiſonniren, in welchem nicht ſelten Dinge<lb/> ”als ausgemachte Wahrheiten behauptet werden, die<lb/> ”oft ein einziger Blick in die Natur des Menſchen,<lb/> ”und in den Lauf der Welt, widerlegt.‛</p><lb/> <p>‚Dieß waren die Vortheile, die ich mir von der<lb/> ”Freundſchaft mit dem jungen Officier, und von<lb/> ”den ausgeſuchten Geſellſchaften verſprach, in<lb/> ”die er mich zuweilen fuͤhrte. Jndeſſen brachte dieſer<lb/> ”mein weltlicher Umgang mir bey dem Superinten-<lb/> ”deuten ungezweifelten Nachtheil. So wie ich den<lb/> ”Zirkel uͤberſchritt, den er mir angewieſen hatte, ward<lb/> ”er kaͤlter und feyerlicher gegen mich, und, ohne daß<lb/> <fw place="bottom" type="catch">”er</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0061]
”aus dem Kandidatenſtande mitbringt; er wuͤrde,
”wenn er die mannichfaltigen Einſichten und Ver-
”dienſte von Perſonen anderer Staͤnde oft vor Augen
”haͤtte, ſich den Lehrerton abgewoͤhnen, der bey ver-
”ſtaͤndigen Leuten den Prediger nie wuͤrdiger macht,
”oft aber wohl zur Zuruͤckhaltung und zum Kaltſinn
”Anlaß giebt; er wuͤrde, wenn er ſich der Sitten, Be-
”ſchaͤfftigungen, Vergnuͤgungen, die andere Menſchen
”haben, nicht ſchaͤmte, weit eher ihr Zutrauen er-
”halten, er wuͤrde ſie genauer kennen, und folglich
”auch ihren Gemuͤthszuſtand beſſer beurtheilen lernen,
”als wenn er bloß mit Leuten umgienge, die mit ihm
”aus eben demſelben Kompendium der theologiſchen
”Moral raiſonniren, in welchem nicht ſelten Dinge
”als ausgemachte Wahrheiten behauptet werden, die
”oft ein einziger Blick in die Natur des Menſchen,
”und in den Lauf der Welt, widerlegt.‛
‚Dieß waren die Vortheile, die ich mir von der
”Freundſchaft mit dem jungen Officier, und von
”den ausgeſuchten Geſellſchaften verſprach, in
”die er mich zuweilen fuͤhrte. Jndeſſen brachte dieſer
”mein weltlicher Umgang mir bey dem Superinten-
”deuten ungezweifelten Nachtheil. So wie ich den
”Zirkel uͤberſchritt, den er mir angewieſen hatte, ward
”er kaͤlter und feyerlicher gegen mich, und, ohne daß
”er
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/61 |
Zitationshilfe: | Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/61>, abgerufen am 05.07.2024. |