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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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andern Morgens sehr früh, ermunterte und ermannte
sich Säugling, seiner Müdigkeit ohnerachtet, und
wanderte nach dem herrschaftlichen Garten, in den
sie durch eine von dem schlauen Kammermädchen ge-
öfnete Hinterthür traten. Sie führte Säuglingen
ferner nach einer etwas abgelegenen grünen Laube,
wo Mariane, in der Meynung ganz allein zu seyn,
mit süßer Schwermuth Säuglings Heroide las.

Sie that einen lauten Schrey, als sie ihn erblickte,
und wollte forteilen. Es war aber ein Glück, daß
ihr ihre Füße diesen Dienst versagten, denn der zittern-
de Säugling war selbst in so großer Verlegenheit,
daß er schwerlich so viel Besonnenheit gehabt haben
würde, sie zurück zu halten. Er stand mit herunter-
hangenden Händen, wie ein stummes Bild da, und
es währte einige Minuten, ehe er mit stamlender
Zunge eine Entschuldigung seiner Verwegenheit vor-
brachte. Da er in Marianens Augen, auf die er
seinen Blick unverwendet heftete, keinen Zorn wahr-
nahm, so faßte er das Herz, sich ihr zu Füßen zu
werfen, ihr nochmals die ganze Jnnigkeit seiner Liebe
zu entdecken, und sie um Gegenliebe anzuflehen.
Mariane wolte noch zurückhalten, aber sie konnte
ihrer innern Zärtlichkeit selbst nicht Wiederstand thun,
und entdeckte, unter sanftem Erröthen, alles was sie

für



andern Morgens ſehr fruͤh, ermunterte und ermannte
ſich Saͤugling, ſeiner Muͤdigkeit ohnerachtet, und
wanderte nach dem herrſchaftlichen Garten, in den
ſie durch eine von dem ſchlauen Kammermaͤdchen ge-
oͤfnete Hinterthuͤr traten. Sie fuͤhrte Saͤuglingen
ferner nach einer etwas abgelegenen gruͤnen Laube,
wo Mariane, in der Meynung ganz allein zu ſeyn,
mit ſuͤßer Schwermuth Saͤuglings Heroide las.

Sie that einen lauten Schrey, als ſie ihn erblickte,
und wollte forteilen. Es war aber ein Gluͤck, daß
ihr ihre Fuͤße dieſen Dienſt verſagten, denn der zittern-
de Saͤugling war ſelbſt in ſo großer Verlegenheit,
daß er ſchwerlich ſo viel Beſonnenheit gehabt haben
wuͤrde, ſie zuruͤck zu halten. Er ſtand mit herunter-
hangenden Haͤnden, wie ein ſtummes Bild da, und
es waͤhrte einige Minuten, ehe er mit ſtamlender
Zunge eine Entſchuldigung ſeiner Verwegenheit vor-
brachte. Da er in Marianens Augen, auf die er
ſeinen Blick unverwendet heftete, keinen Zorn wahr-
nahm, ſo faßte er das Herz, ſich ihr zu Fuͤßen zu
werfen, ihr nochmals die ganze Jnnigkeit ſeiner Liebe
zu entdecken, und ſie um Gegenliebe anzuflehen.
Mariane wolte noch zuruͤckhalten, aber ſie konnte
ihrer innern Zaͤrtlichkeit ſelbſt nicht Wiederſtand thun,
und entdeckte, unter ſanftem Erroͤthen, alles was ſie

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[226/0252] andern Morgens ſehr fruͤh, ermunterte und ermannte ſich Saͤugling, ſeiner Muͤdigkeit ohnerachtet, und wanderte nach dem herrſchaftlichen Garten, in den ſie durch eine von dem ſchlauen Kammermaͤdchen ge- oͤfnete Hinterthuͤr traten. Sie fuͤhrte Saͤuglingen ferner nach einer etwas abgelegenen gruͤnen Laube, wo Mariane, in der Meynung ganz allein zu ſeyn, mit ſuͤßer Schwermuth Saͤuglings Heroide las. Sie that einen lauten Schrey, als ſie ihn erblickte, und wollte forteilen. Es war aber ein Gluͤck, daß ihr ihre Fuͤße dieſen Dienſt verſagten, denn der zittern- de Saͤugling war ſelbſt in ſo großer Verlegenheit, daß er ſchwerlich ſo viel Beſonnenheit gehabt haben wuͤrde, ſie zuruͤck zu halten. Er ſtand mit herunter- hangenden Haͤnden, wie ein ſtummes Bild da, und es waͤhrte einige Minuten, ehe er mit ſtamlender Zunge eine Entſchuldigung ſeiner Verwegenheit vor- brachte. Da er in Marianens Augen, auf die er ſeinen Blick unverwendet heftete, keinen Zorn wahr- nahm, ſo faßte er das Herz, ſich ihr zu Fuͤßen zu werfen, ihr nochmals die ganze Jnnigkeit ſeiner Liebe zu entdecken, und ſie um Gegenliebe anzuflehen. Mariane wolte noch zuruͤckhalten, aber ſie konnte ihrer innern Zaͤrtlichkeit ſelbſt nicht Wiederſtand thun, und entdeckte, unter ſanftem Erroͤthen, alles was ſie fuͤr

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/252>, abgerufen am 22.11.2024.