die Farbe der menschlichen Sprache, der menschlichen Wort- begriffe trägt, wie wir selbst in der Absonderung von unsrer Umgebung im stillen einsamen Denken der Worte der Sprache uns fort und fort bedienen, also wenigstens die Fiktion der Mitteilung festhalten, so leuchtet wohl ein, wie unpsycholo- gisch, vollends unpädagogisch es ist, auch nur von der theo- retischen Bildung des Einzelnen zu reden ohne Berücksichti- gung dieser wesentlichen Bedingung, des Lebens in der Ge- meinschaft.
Ist aber das menschliche Bewusstsein schon in seiner sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so gilt- das Gleiche nur in erhöhtem Maasse vom menschlichen Selbst- bewusstsein. Es giebt kein Selbstbewusstsein und kann keines geben ohne Entgegensetzung und zugleich positive Be- ziehung zu anderem Bewusstsein; keine Selbstverständigung ohne die Grundlage der Verständigung mit Andern; kein sich selber Gegenübertreten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige Erfahrung, wie Bewusstsein und Bewusstsein sich gegenüber- treten, wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im Selbst- bewusstsein des Einzelnen, wenn nicht das alles zuerst vor- gekommen wäre im Wechselverhältnis der Individuen in der Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst zum Du werden, wenn nicht erst ein Du mir gegenüberstände, in dem ich ein anderes Ich erkenne?
Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theoretischen, auch im praktischen Gebiet Anwendung; vielmehr keine dieser Beziehungen ist jemals bloss theoretisch, sondern unmittelbar und unvermeidlich auch praktisch. Jede Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein wirkt notwendig auch auf den Willen; jede menschliche Gemeinschaft ist notwendig in irgend- welchem Grade Willensgemeinschaft.
Gewiss ist das Wollen, und gar das reine Wollen, an sich schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich Willen haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemeinschaft nicht in- sofern willenbildend, am wenigsten im sittlichen Sinne, als der Eine nur passiv unter dem Einfluss des Andern steht. Aber
die Farbe der menschlichen Sprache, der menschlichen Wort- begriffe trägt, wie wir selbst in der Absonderung von unsrer Umgebung im stillen einsamen Denken der Worte der Sprache uns fort und fort bedienen, also wenigstens die Fiktion der Mitteilung festhalten, so leuchtet wohl ein, wie unpsycholo- gisch, vollends unpädagogisch es ist, auch nur von der theo- retischen Bildung des Einzelnen zu reden ohne Berücksichti- gung dieser wesentlichen Bedingung, des Lebens in der Ge- meinschaft.
Ist aber das menschliche Bewusstsein schon in seiner sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so gilt- das Gleiche nur in erhöhtem Maasse vom menschlichen Selbst- bewusstsein. Es giebt kein Selbstbewusstsein und kann keines geben ohne Entgegensetzung und zugleich positive Be- ziehung zu anderem Bewusstsein; keine Selbstverständigung ohne die Grundlage der Verständigung mit Andern; kein sich selber Gegenübertreten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige Erfahrung, wie Bewusstsein und Bewusstsein sich gegenüber- treten, wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im Selbst- bewusstsein des Einzelnen, wenn nicht das alles zuerst vor- gekommen wäre im Wechselverhältnis der Individuen in der Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst zum Du werden, wenn nicht erst ein Du mir gegenüberstände, in dem ich ein anderes Ich erkenne?
Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theoretischen, auch im praktischen Gebiet Anwendung; vielmehr keine dieser Beziehungen ist jemals bloss theoretisch, sondern unmittelbar und unvermeidlich auch praktisch. Jede Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein wirkt notwendig auch auf den Willen; jede menschliche Gemeinschaft ist notwendig in irgend- welchem Grade Willensgemeinschaft.
Gewiss ist das Wollen, und gar das reine Wollen, an sich schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich Willen haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemeinschaft nicht in- sofern willenbildend, am wenigsten im sittlichen Sinne, als der Eine nur passiv unter dem Einfluss des Andern steht. Aber
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die Farbe der menschlichen Sprache, der menschlichen Wort-
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Umgebung im stillen einsamen Denken der Worte der Sprache
uns fort und fort bedienen, also wenigstens die Fiktion der
Mitteilung festhalten, so leuchtet wohl ein, wie unpsycholo-
gisch, vollends unpädagogisch es ist, auch nur von der theo-
retischen Bildung des Einzelnen zu reden ohne Berücksichti-
gung dieser wesentlichen Bedingung, des Lebens in der Ge-
meinschaft.
Ist aber das menschliche Bewusstsein schon in seiner
sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so gilt-
das Gleiche nur in erhöhtem Maasse vom menschlichen Selbst-
bewusstsein. Es giebt kein Selbstbewusstsein und kann
keines geben ohne Entgegensetzung und zugleich positive Be-
ziehung zu anderem Bewusstsein; keine Selbstverständigung
ohne die Grundlage der Verständigung mit Andern; kein sich
selber Gegenübertreten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige
Erfahrung, wie Bewusstsein und Bewusstsein sich gegenüber-
treten, wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch
Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im Selbst-
bewusstsein des Einzelnen, wenn nicht das alles zuerst vor-
gekommen wäre im Wechselverhältnis der Individuen in der
Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst zum Du werden,
wenn nicht erst ein Du mir gegenüberstände, in dem ich ein
anderes Ich erkenne?
Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theoretischen,
auch im praktischen Gebiet Anwendung; vielmehr keine dieser
Beziehungen ist jemals bloss theoretisch, sondern unmittelbar
und unvermeidlich auch praktisch. Jede Gemeinschaft von
Bewusstsein und Bewusstsein wirkt notwendig auch auf den
Willen; jede menschliche Gemeinschaft ist notwendig in irgend-
welchem Grade Willensgemeinschaft.
Gewiss ist das Wollen, und gar das reine Wollen, an sich
schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich Willen
haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemeinschaft nicht in-
sofern willenbildend, am wenigsten im sittlichen Sinne, als der
Eine nur passiv unter dem Einfluss des Andern steht. Aber
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/91>, abgerufen am 24.11.2024.
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