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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie
erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In-
halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm
den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es
ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen
und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen
gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem
Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum
Philosophen "umzuwerten" bemüht scheint.

Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des
Selbst
. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil-
dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen-
schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über
die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten
hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In-
halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge-
setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis-
mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein-
schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen
heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie
befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft
nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem
Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen
den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen
vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines
Zimmers.

Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber
ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus-
setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins;
dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer.
Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern
schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein
als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein-
heit der Idee.

Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist,
Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald
er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen

Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie
erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In-
halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm
den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es
ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen
und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen
gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem
Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum
Philosophen „umzuwerten“ bemüht scheint.

Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des
Selbst
. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil-
dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen-
schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über
die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten
hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In-
halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge-
setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis-
mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein-
schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen
heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie
befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft
nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem
Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen
den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen
vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines
Zimmers.

Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber
ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus-
setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins;
dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer.
Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern
schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein
als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein-
heit der Idee.

Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist,
Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald
er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen

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[71/0087] Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In- halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum Philosophen „umzuwerten“ bemüht scheint. Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des Selbst. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil- dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen- schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In- halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge- setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis- mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein- schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines Zimmers. Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus- setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins; dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer. Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein- heit der Idee. Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist, Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/87>, abgerufen am 24.11.2024.