Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In- halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum Philosophen "umzuwerten" bemüht scheint.
Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des Selbst. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil- dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen- schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In- halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge- setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis- mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein- schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines Zimmers.
Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus- setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins; dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer. Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein- heit der Idee.
Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist, Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen
Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In- halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum Philosophen „umzuwerten“ bemüht scheint.
Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des Selbst. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil- dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen- schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In- halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge- setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis- mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein- schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines Zimmers.
Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus- setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins; dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer. Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein- heit der Idee.
Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist, Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0087"n="71"/>
Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie<lb/>
erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In-<lb/>
halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm<lb/>
den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es<lb/>
ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen<lb/>
und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen<lb/>
gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem<lb/>
Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum<lb/>
Philosophen „umzuwerten“ bemüht scheint.</p><lb/><p><hirendition="#g">Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des<lb/>
Selbst</hi>. Die Spontaneität, die <hirendition="#g">echte</hi> Individualität der Bil-<lb/>
dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen-<lb/>
schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über<lb/>
die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten<lb/>
hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In-<lb/>
halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge-<lb/>
setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis-<lb/>
mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein-<lb/>
schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen<lb/>
heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie<lb/>
befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft<lb/>
nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem<lb/>
Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen<lb/>
den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen<lb/>
vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines<lb/>
Zimmers.</p><lb/><p>Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber<lb/>
ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus-<lb/>
setzungen. <hirendition="#g">Kontinuität</hi> ist das Urgesetz des Bewusstseins;<lb/>
dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer.<lb/>
Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern<lb/>
schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein<lb/>
als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein-<lb/>
heit der Idee.</p><lb/><p>Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist,<lb/>
Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald<lb/>
er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[71/0087]
Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie
erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In-
halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm
den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es
ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen
und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen
gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem
Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum
Philosophen „umzuwerten“ bemüht scheint.
Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des
Selbst. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil-
dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen-
schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über
die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten
hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In-
halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge-
setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis-
mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein-
schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen
heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie
befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft
nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem
Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen
den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen
vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines
Zimmers.
Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber
ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus-
setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins;
dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer.
Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern
schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein
als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein-
heit der Idee.
Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist,
Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald
er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/87>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.