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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Aber der Mensch wächst nun nicht vereinzelt auf, auch
nicht bloss der eine neben dem andern unter ungefähr gleichen
Bedingungen, sondern jeder zugleich unter vielseitigem Einfluss
andrer und in beständiger Rückwirkung auf solchen Einfluss.
Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich
dem Atom des Physikers. Der Mensch, hinsichtlich alles
dessen, was ihn zum Menschen macht, ist nicht erst als
einzelner da, um dann auch mit andern in Gemeinschaft
zu treten, sondern er ist ohne diese Gemeinschaft gar nicht
Mensch.

So wie die Sozialwissenschaft das vergass, wenn sie die
Gesellschaft aus einer bloss äusseren Verbindung zuvor isoliert
gedachter Einzelner zu erklären unternahm; wie die Ethik es
übersah, so oft sie aus dem Egoismus, als, wenn nicht über-
haupt einzigem, doch einzig ursprünglichem und selbstver-
ständlichem Trieb im Menschen, dessen sittliches Leben und
Denken durch irgend eine Entwicklung hervorgehen liess; so
muss auch die Erziehungslehre in wichtigen Hinsichten ihre
Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht als Grundsatz erkennt und
an die Spitze stellt, dass Erziehung ohne Gemeinschaft über-
haupt nicht bestände. Selbst ohne das Bedürfnis einer tieferen
Ableitung dieses zwingenden Verhältnisses beider Begriffe
hätte die Frage als eine der ersten in der Pädagogik aufge-
worfen werden müssen: wie unter dieser nun einmal grund-
wesentlichen Voraussetzung des Lebens in menschlicher Ge-
meinschaft die Bildung des Menschen, insbesondere des
menschlichen Willens, sich gestalten müsse. Hier aber ist
es um eine reine Ableitung der fundamentalen Begriffe der
Willenserziehung zu thun. Daher müssen wir nach der
letzten Begründung dieses thatsächlich unzweifelhaft bestehen-
den Verhältnisses zwischen Erziehung und Gemeinschaft fragen.

Nicht als wäre nach tief verborgenen metaphysischen
Gründen dafür zu forschen, dass überhaupt eine Vielheit be-
wusster Existenzen, und unter diesen ein Verkehr stattfindet;
eine Frage, die vom kritischen Wege unsrer Untersuchung weit
abliegt und überhaupt zur Zeit keine Aussicht irgend einer
wissenschaftlichen Beantwortung bietet. Nicht nach Existenz-

Aber der Mensch wächst nun nicht vereinzelt auf, auch
nicht bloss der eine neben dem andern unter ungefähr gleichen
Bedingungen, sondern jeder zugleich unter vielseitigem Einfluss
andrer und in beständiger Rückwirkung auf solchen Einfluss.
Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich
dem Atom des Physikers. Der Mensch, hinsichtlich alles
dessen, was ihn zum Menschen macht, ist nicht erst als
einzelner da, um dann auch mit andern in Gemeinschaft
zu treten, sondern er ist ohne diese Gemeinschaft gar nicht
Mensch.

So wie die Sozialwissenschaft das vergass, wenn sie die
Gesellschaft aus einer bloss äusseren Verbindung zuvor isoliert
gedachter Einzelner zu erklären unternahm; wie die Ethik es
übersah, so oft sie aus dem Egoismus, als, wenn nicht über-
haupt einzigem, doch einzig ursprünglichem und selbstver-
ständlichem Trieb im Menschen, dessen sittliches Leben und
Denken durch irgend eine Entwicklung hervorgehen liess; so
muss auch die Erziehungslehre in wichtigen Hinsichten ihre
Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht als Grundsatz erkennt und
an die Spitze stellt, dass Erziehung ohne Gemeinschaft über-
haupt nicht bestände. Selbst ohne das Bedürfnis einer tieferen
Ableitung dieses zwingenden Verhältnisses beider Begriffe
hätte die Frage als eine der ersten in der Pädagogik aufge-
worfen werden müssen: wie unter dieser nun einmal grund-
wesentlichen Voraussetzung des Lebens in menschlicher Ge-
meinschaft die Bildung des Menschen, insbesondere des
menschlichen Willens, sich gestalten müsse. Hier aber ist
es um eine reine Ableitung der fundamentalen Begriffe der
Willenserziehung zu thun. Daher müssen wir nach der
letzten Begründung dieses thatsächlich unzweifelhaft bestehen-
den Verhältnisses zwischen Erziehung und Gemeinschaft fragen.

Nicht als wäre nach tief verborgenen metaphysischen
Gründen dafür zu forschen, dass überhaupt eine Vielheit be-
wusster Existenzen, und unter diesen ein Verkehr stattfindet;
eine Frage, die vom kritischen Wege unsrer Untersuchung weit
abliegt und überhaupt zur Zeit keine Aussicht irgend einer
wissenschaftlichen Beantwortung bietet. Nicht nach Existenz-

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[69/0085] Aber der Mensch wächst nun nicht vereinzelt auf, auch nicht bloss der eine neben dem andern unter ungefähr gleichen Bedingungen, sondern jeder zugleich unter vielseitigem Einfluss andrer und in beständiger Rückwirkung auf solchen Einfluss. Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich dem Atom des Physikers. Der Mensch, hinsichtlich alles dessen, was ihn zum Menschen macht, ist nicht erst als einzelner da, um dann auch mit andern in Gemeinschaft zu treten, sondern er ist ohne diese Gemeinschaft gar nicht Mensch. So wie die Sozialwissenschaft das vergass, wenn sie die Gesellschaft aus einer bloss äusseren Verbindung zuvor isoliert gedachter Einzelner zu erklären unternahm; wie die Ethik es übersah, so oft sie aus dem Egoismus, als, wenn nicht über- haupt einzigem, doch einzig ursprünglichem und selbstver- ständlichem Trieb im Menschen, dessen sittliches Leben und Denken durch irgend eine Entwicklung hervorgehen liess; so muss auch die Erziehungslehre in wichtigen Hinsichten ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht als Grundsatz erkennt und an die Spitze stellt, dass Erziehung ohne Gemeinschaft über- haupt nicht bestände. Selbst ohne das Bedürfnis einer tieferen Ableitung dieses zwingenden Verhältnisses beider Begriffe hätte die Frage als eine der ersten in der Pädagogik aufge- worfen werden müssen: wie unter dieser nun einmal grund- wesentlichen Voraussetzung des Lebens in menschlicher Ge- meinschaft die Bildung des Menschen, insbesondere des menschlichen Willens, sich gestalten müsse. Hier aber ist es um eine reine Ableitung der fundamentalen Begriffe der Willenserziehung zu thun. Daher müssen wir nach der letzten Begründung dieses thatsächlich unzweifelhaft bestehen- den Verhältnisses zwischen Erziehung und Gemeinschaft fragen. Nicht als wäre nach tief verborgenen metaphysischen Gründen dafür zu forschen, dass überhaupt eine Vielheit be- wusster Existenzen, und unter diesen ein Verkehr stattfindet; eine Frage, die vom kritischen Wege unsrer Untersuchung weit abliegt und überhaupt zur Zeit keine Aussicht irgend einer wissenschaftlichen Beantwortung bietet. Nicht nach Existenz-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/85>, abgerufen am 22.11.2024.