Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Nichts-als-religiöse zwar wird diese Frage gleich von
der Schwelle abweisen. Begreiflich: habe ich Gott, was ver-
mag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes,
menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung. Dieser
Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer "Gottlosigkeit" oder
doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein
solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl "Gott
ist gegenwärtig". Sondern die Ueberhebung ist auf der Seite
der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die
sich vermisst, ihr gebrechliches "Gesetz", jenes Kantsche ABC,
womit wir "Erfahrung buchstabieren", zum Maasstab zu machen
für -- Gott den Unendlichen; während sie doch selber ein-
gestehen muss, nichts als dies ABC und was sich damit buchsta-
bieren lässt, zu kennen.

Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Ge-
schick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die
Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr
Schuld gegeben, dass sie eben damit ihre Kompetenz über-
schreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache,
das ihr grundsätzlich verschlossen sei.

Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und dass
sie ausgeschlossen ist, kann jenem Nichts-als-religiösen nur
gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit
dem, den man niederzuwerfen gewiss ist; warum paktieren,
wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens
kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen
Kultur ganz wohl: sie lässt sie ganz gelten, wofern sie sich
nur dahin demütigt ihr dienstbar zu werden und die Schranken
sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht
in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen
Ansprüche
. Abfinden kann sich umgekehrt die humane
Kultur mit der Religion: aber nicht mit der Religion der
Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die
"Grenzen der Menschheit" sich bereits zurückbesonnen hat.
Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als
Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissen-
schaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein mensch-

Der Nichts-als-religiöse zwar wird diese Frage gleich von
der Schwelle abweisen. Begreiflich: habe ich Gott, was ver-
mag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes,
menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung. Dieser
Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer „Gottlosigkeit“ oder
doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein
solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl „Gott
ist gegenwärtig“. Sondern die Ueberhebung ist auf der Seite
der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die
sich vermisst, ihr gebrechliches „Gesetz“, jenes Kantsche ABC,
womit wir „Erfahrung buchstabieren“, zum Maasstab zu machen
für — Gott den Unendlichen; während sie doch selber ein-
gestehen muss, nichts als dies ABC und was sich damit buchsta-
bieren lässt, zu kennen.

Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Ge-
schick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die
Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr
Schuld gegeben, dass sie eben damit ihre Kompetenz über-
schreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache,
das ihr grundsätzlich verschlossen sei.

Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und dass
sie ausgeschlossen ist, kann jenem Nichts-als-religiösen nur
gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit
dem, den man niederzuwerfen gewiss ist; warum paktieren,
wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens
kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen
Kultur ganz wohl: sie lässt sie ganz gelten, wofern sie sich
nur dahin demütigt ihr dienstbar zu werden und die Schranken
sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht
in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen
Ansprüche
. Abfinden kann sich umgekehrt die humane
Kultur mit der Religion: aber nicht mit der Religion der
Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die
„Grenzen der Menschheit“ sich bereits zurückbesonnen hat.
Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als
Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissen-
schaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein mensch-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0350" n="334"/>
          <p>Der Nichts-als-religiöse zwar wird diese Frage gleich von<lb/>
der Schwelle abweisen. Begreiflich: <hi rendition="#g">habe</hi> ich Gott, was ver-<lb/>
mag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes,<lb/>
menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung. Dieser<lb/>
Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer &#x201E;Gottlosigkeit&#x201C; oder<lb/>
doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein<lb/>
solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl &#x201E;Gott<lb/>
ist gegenwärtig&#x201C;. Sondern die Ueberhebung ist auf der Seite<lb/>
der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die<lb/>
sich vermisst, ihr gebrechliches &#x201E;Gesetz&#x201C;, jenes Kantsche ABC,<lb/>
womit wir &#x201E;Erfahrung buchstabieren&#x201C;, zum Maasstab zu machen<lb/>
für &#x2014; Gott den Unendlichen; während sie doch selber ein-<lb/>
gestehen muss, nichts als dies ABC und was sich damit buchsta-<lb/>
bieren lässt, zu kennen.</p><lb/>
          <p>Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Ge-<lb/>
schick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die<lb/>
Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr<lb/>
Schuld gegeben, dass sie eben damit ihre Kompetenz über-<lb/>
schreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache,<lb/>
das ihr grundsätzlich verschlossen sei.</p><lb/>
          <p>Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und dass<lb/>
sie ausgeschlossen ist, kann jenem Nichts-als-religiösen nur<lb/>
gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit<lb/>
dem, den man niederzuwerfen gewiss ist; warum paktieren,<lb/>
wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens<lb/>
kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen<lb/>
Kultur ganz wohl: sie lässt sie ganz gelten, wofern sie sich<lb/>
nur dahin demütigt ihr dienstbar zu werden und die Schranken<lb/>
sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht<lb/><hi rendition="#g">in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen<lb/>
Ansprüche</hi>. Abfinden kann sich umgekehrt die humane<lb/>
Kultur mit der Religion: aber nicht mit der Religion der<lb/>
Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die<lb/>
&#x201E;Grenzen der Menschheit&#x201C; sich bereits zurückbesonnen hat.<lb/>
Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als<lb/>
Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissen-<lb/>
schaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein mensch-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[334/0350] Der Nichts-als-religiöse zwar wird diese Frage gleich von der Schwelle abweisen. Begreiflich: habe ich Gott, was ver- mag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes, menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung. Dieser Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer „Gottlosigkeit“ oder doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl „Gott ist gegenwärtig“. Sondern die Ueberhebung ist auf der Seite der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die sich vermisst, ihr gebrechliches „Gesetz“, jenes Kantsche ABC, womit wir „Erfahrung buchstabieren“, zum Maasstab zu machen für — Gott den Unendlichen; während sie doch selber ein- gestehen muss, nichts als dies ABC und was sich damit buchsta- bieren lässt, zu kennen. Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Ge- schick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr Schuld gegeben, dass sie eben damit ihre Kompetenz über- schreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache, das ihr grundsätzlich verschlossen sei. Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und dass sie ausgeschlossen ist, kann jenem Nichts-als-religiösen nur gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit dem, den man niederzuwerfen gewiss ist; warum paktieren, wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen Kultur ganz wohl: sie lässt sie ganz gelten, wofern sie sich nur dahin demütigt ihr dienstbar zu werden und die Schranken sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen Ansprüche. Abfinden kann sich umgekehrt die humane Kultur mit der Religion: aber nicht mit der Religion der Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die „Grenzen der Menschheit“ sich bereits zurückbesonnen hat. Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissen- schaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein mensch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/350
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/350>, abgerufen am 11.05.2024.