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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der sie
mir fasslich zu machen der Mühe wert hält.

Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objekti-
vierung ist sie etwa begreiflich zu machen. Begreifen heisst
begrenzen. Das Unendliche des blossen Verstandes besagt nur,
negativ, die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und
auf endliche Anwendungen allein zugeschnittenen Verfahren des
verstehenden Bewusstseins je zu Ende d. h. zu einem ab-
schliessenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls auch
positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben Verfahrens
dieses verstehenden Bewusstseins. So bedeutet die Unendlich-
keit der Zahl: das Verfahren der Zählung sei so geartet, dass
ein Weiterzählen, soviel an der Natur des Verfahrens liegt,
immer möglich bleibt, dass es keinen Begriff einer letzten Zahl
giebt; sie besagt dagegen keineswegs die Existenz einer Zahl infinity,
durch die ein (numerisch) Unendliches erkannt werde. Und
so ist jeder andre verstandesmässige Ausdruck des Unendlichen.
Auch das "Absolute" bezeichnet nur negativ die Grenze des
Begreifens, kein Begriffenes, keinen in einem positiven Begriff
erfassten oder erfasslichen Gegenstand des Erkennens; es ist
bestenfalls der Begriff davon, wie wir den Gegenstand begriffen
haben müssten, um ihn ganz, ohne Einschränkung, begriffen
zu haben. Es ist, vom Standpunkt des wirklichen Begreifens,
sogar ein sich selbst missverstehender Aufgabenbegriff;
denn menschliches Begreifen besteht nur und hat nur seine
Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze, ohne
Abschluss in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu
begreifen übrig bliebe. So ist aber nicht das Unendliche, das
die Religion im Erlebnis des Innern, nicht sucht, sondern un-
mittelbar zu haben
, zu leben glaubt. Nun unternimmt
sie wohl nachträglich auch das in den Formen des begreifenden
Denkens auszudrücken, da sie, kraft ihres universellen An-
spruchs auf das ganze Reich des Bewusstseins, auch das
Gebiet des Verstandes, der theoretischen Erkenntnis, für sich
zu erobern trachten muss. Und so arbeitet sie ihr Dogma
vom Unendlichen in aller Form begrifflich aus, und man
empfindet sogar eine "innere", nämlich subjektive Notwendig-

sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der sie
mir fasslich zu machen der Mühe wert hält.

Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objekti-
vierung ist sie etwa begreiflich zu machen. Begreifen heisst
begrenzen. Das Unendliche des blossen Verstandes besagt nur,
negativ, die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und
auf endliche Anwendungen allein zugeschnittenen Verfahren des
verstehenden Bewusstseins je zu Ende d. h. zu einem ab-
schliessenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls auch
positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben Verfahrens
dieses verstehenden Bewusstseins. So bedeutet die Unendlich-
keit der Zahl: das Verfahren der Zählung sei so geartet, dass
ein Weiterzählen, soviel an der Natur des Verfahrens liegt,
immer möglich bleibt, dass es keinen Begriff einer letzten Zahl
giebt; sie besagt dagegen keineswegs die Existenz einer Zahl ∞,
durch die ein (numerisch) Unendliches erkannt werde. Und
so ist jeder andre verstandesmässige Ausdruck des Unendlichen.
Auch das „Absolute“ bezeichnet nur negativ die Grenze des
Begreifens, kein Begriffenes, keinen in einem positiven Begriff
erfassten oder erfasslichen Gegenstand des Erkennens; es ist
bestenfalls der Begriff davon, wie wir den Gegenstand begriffen
haben müssten, um ihn ganz, ohne Einschränkung, begriffen
zu haben. Es ist, vom Standpunkt des wirklichen Begreifens,
sogar ein sich selbst missverstehender Aufgabenbegriff;
denn menschliches Begreifen besteht nur und hat nur seine
Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze, ohne
Abschluss in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu
begreifen übrig bliebe. So ist aber nicht das Unendliche, das
die Religion im Erlebnis des Innern, nicht sucht, sondern un-
mittelbar zu haben
, zu leben glaubt. Nun unternimmt
sie wohl nachträglich auch das in den Formen des begreifenden
Denkens auszudrücken, da sie, kraft ihres universellen An-
spruchs auf das ganze Reich des Bewusstseins, auch das
Gebiet des Verstandes, der theoretischen Erkenntnis, für sich
zu erobern trachten muss. Und so arbeitet sie ihr Dogma
vom Unendlichen in aller Form begrifflich aus, und man
empfindet sogar eine „innere“, nämlich subjektive Notwendig-

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[331/0347] sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der sie mir fasslich zu machen der Mühe wert hält. Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objekti- vierung ist sie etwa begreiflich zu machen. Begreifen heisst begrenzen. Das Unendliche des blossen Verstandes besagt nur, negativ, die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und auf endliche Anwendungen allein zugeschnittenen Verfahren des verstehenden Bewusstseins je zu Ende d. h. zu einem ab- schliessenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls auch positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben Verfahrens dieses verstehenden Bewusstseins. So bedeutet die Unendlich- keit der Zahl: das Verfahren der Zählung sei so geartet, dass ein Weiterzählen, soviel an der Natur des Verfahrens liegt, immer möglich bleibt, dass es keinen Begriff einer letzten Zahl giebt; sie besagt dagegen keineswegs die Existenz einer Zahl ∞, durch die ein (numerisch) Unendliches erkannt werde. Und so ist jeder andre verstandesmässige Ausdruck des Unendlichen. Auch das „Absolute“ bezeichnet nur negativ die Grenze des Begreifens, kein Begriffenes, keinen in einem positiven Begriff erfassten oder erfasslichen Gegenstand des Erkennens; es ist bestenfalls der Begriff davon, wie wir den Gegenstand begriffen haben müssten, um ihn ganz, ohne Einschränkung, begriffen zu haben. Es ist, vom Standpunkt des wirklichen Begreifens, sogar ein sich selbst missverstehender Aufgabenbegriff; denn menschliches Begreifen besteht nur und hat nur seine Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze, ohne Abschluss in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu begreifen übrig bliebe. So ist aber nicht das Unendliche, das die Religion im Erlebnis des Innern, nicht sucht, sondern un- mittelbar zu haben, zu leben glaubt. Nun unternimmt sie wohl nachträglich auch das in den Formen des begreifenden Denkens auszudrücken, da sie, kraft ihres universellen An- spruchs auf das ganze Reich des Bewusstseins, auch das Gebiet des Verstandes, der theoretischen Erkenntnis, für sich zu erobern trachten muss. Und so arbeitet sie ihr Dogma vom Unendlichen in aller Form begrifflich aus, und man empfindet sogar eine „innere“, nämlich subjektive Notwendig-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/347>, abgerufen am 29.11.2024.