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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Inhalt des Bewusstseins herauslösen und damit objektivieren,
voraus, lasse aber dann diese Ablösung wieder ungeschehen und
die herausgelösten Inhaltsbestandteile in die ursprüngliche
Verbindung, die alles mit allem im unmittelbaren "subjek-
tiven" Bewusstsein hatte, zurückversetzt sein. Aber auch das
ist schliesslich nur ein abstraktives Verfahren, welches dem
angeblich Unmittelbaren erst durch weite, ja grenzenlose Ver-
mittlungen beizukommen unternimmt und es so erst recht nicht
erreichen wird; aber eben indem auf diese Weise seine Un-
nahbarkeit durch den vergeblichen Versuch, ihm zu nahen,
erst recht zum Bewusstsein gebracht wird, so wird eben damit
die Existenz dieses Unnahbaren dem Zweifelnden gewiss ge-
macht. Für das Erlebnis des Gefühls übrigens ist es in
der That ganz gleichgültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck
überhaupt findet oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart
gelebt, es will nicht gedacht d. h. mittelbar vergegenwärtigt
sein. In jener Klage: "Spricht die Seele, so spricht, ach, schon
die Seele nicht mehr" ist das "ach" grundlos: eben diese Un-
aussprechlichkeit des Gefühls ist sein Höchstes.

Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene,
zweifellos aber Vorhandene ein andres Wort passender als das
Wort Gefühl, so wird niemand zögern, dies Wort preiszugeben;
es wurde gewählt, weil ein andres (meines Wissens) nicht ge-
bräuchlich, dieses aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich
in die Sprache der Religionsphilosophie seit Schleiermacher
als technischer Terminus eingeführt ist. Jedenfalls dürfte es
in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen zu
streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht
entgegenhalten dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer
seelischen Kraft allein, sondern auf allen zusammen; Verstand
und Wille gehöre auch dazu. Eben dies "Alles in allem"
der seelischen Kräfte ist, nach dargelegter Auffassung, das
"Gefühl". Der Begriff, sofern er selbst und das darin Be-
griffene mir unmittelbares, subjektives Erlebnis ist, ist darin
mitbefasst, und so alles, was man sonst noch nennen mag; nur
dass es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein
Besonderes sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber

Inhalt des Bewusstseins herauslösen und damit objektivieren,
voraus, lasse aber dann diese Ablösung wieder ungeschehen und
die herausgelösten Inhaltsbestandteile in die ursprüngliche
Verbindung, die alles mit allem im unmittelbaren „subjek-
tiven“ Bewusstsein hatte, zurückversetzt sein. Aber auch das
ist schliesslich nur ein abstraktives Verfahren, welches dem
angeblich Unmittelbaren erst durch weite, ja grenzenlose Ver-
mittlungen beizukommen unternimmt und es so erst recht nicht
erreichen wird; aber eben indem auf diese Weise seine Un-
nahbarkeit durch den vergeblichen Versuch, ihm zu nahen,
erst recht zum Bewusstsein gebracht wird, so wird eben damit
die Existenz dieses Unnahbaren dem Zweifelnden gewiss ge-
macht. Für das Erlebnis des Gefühls übrigens ist es in
der That ganz gleichgültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck
überhaupt findet oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart
gelebt, es will nicht gedacht d. h. mittelbar vergegenwärtigt
sein. In jener Klage: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon
die Seele nicht mehr“ ist das „ach“ grundlos: eben diese Un-
aussprechlichkeit des Gefühls ist sein Höchstes.

Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene,
zweifellos aber Vorhandene ein andres Wort passender als das
Wort Gefühl, so wird niemand zögern, dies Wort preiszugeben;
es wurde gewählt, weil ein andres (meines Wissens) nicht ge-
bräuchlich, dieses aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich
in die Sprache der Religionsphilosophie seit Schleiermacher
als technischer Terminus eingeführt ist. Jedenfalls dürfte es
in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen zu
streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht
entgegenhalten dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer
seelischen Kraft allein, sondern auf allen zusammen; Verstand
und Wille gehöre auch dazu. Eben dies „Alles in allem“
der seelischen Kräfte ist, nach dargelegter Auffassung, das
„Gefühl“. Der Begriff, sofern er selbst und das darin Be-
griffene mir unmittelbares, subjektives Erlebnis ist, ist darin
mitbefasst, und so alles, was man sonst noch nennen mag; nur
dass es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein
Besonderes sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber

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[329/0345] Inhalt des Bewusstseins herauslösen und damit objektivieren, voraus, lasse aber dann diese Ablösung wieder ungeschehen und die herausgelösten Inhaltsbestandteile in die ursprüngliche Verbindung, die alles mit allem im unmittelbaren „subjek- tiven“ Bewusstsein hatte, zurückversetzt sein. Aber auch das ist schliesslich nur ein abstraktives Verfahren, welches dem angeblich Unmittelbaren erst durch weite, ja grenzenlose Ver- mittlungen beizukommen unternimmt und es so erst recht nicht erreichen wird; aber eben indem auf diese Weise seine Un- nahbarkeit durch den vergeblichen Versuch, ihm zu nahen, erst recht zum Bewusstsein gebracht wird, so wird eben damit die Existenz dieses Unnahbaren dem Zweifelnden gewiss ge- macht. Für das Erlebnis des Gefühls übrigens ist es in der That ganz gleichgültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck überhaupt findet oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart gelebt, es will nicht gedacht d. h. mittelbar vergegenwärtigt sein. In jener Klage: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr“ ist das „ach“ grundlos: eben diese Un- aussprechlichkeit des Gefühls ist sein Höchstes. Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene, zweifellos aber Vorhandene ein andres Wort passender als das Wort Gefühl, so wird niemand zögern, dies Wort preiszugeben; es wurde gewählt, weil ein andres (meines Wissens) nicht ge- bräuchlich, dieses aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich in die Sprache der Religionsphilosophie seit Schleiermacher als technischer Terminus eingeführt ist. Jedenfalls dürfte es in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen zu streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht entgegenhalten dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer seelischen Kraft allein, sondern auf allen zusammen; Verstand und Wille gehöre auch dazu. Eben dies „Alles in allem“ der seelischen Kräfte ist, nach dargelegter Auffassung, das „Gefühl“. Der Begriff, sofern er selbst und das darin Be- griffene mir unmittelbares, subjektives Erlebnis ist, ist darin mitbefasst, und so alles, was man sonst noch nennen mag; nur dass es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein Besonderes sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/345>, abgerufen am 29.11.2024.