aber doch eigentlich nicht nach dieser Seite geht er uns hier an. Sondern darauf kommt vielmehr alles an, dass die Lehre praktisch werden, dass sie den Willen bewegen muss. Und dazu genügt nicht, wie Herbart zu glauben scheint, eine blosse, thunlichst systematische, nach Einheit und Ganzheit strebende "Darstellung" der vielgestaltigen Materie, auf die dann die Abstraktionsarbeit sich stützen kann. Aus solcher Darstellung und der dadurch bewirkten "Bildung des Gedankenkreises" folgt eine Wirkung auf den Willen ohne weiteres noch nicht. Sondern diese Wirkung ist ganz und gar dadurch bedingt, dass, was der Zögling aus eigner Erfahrung und Uebung kennt, in die Mitte tritt, alles Andre aber sich damit in stetigem lückenlosem Fortschritt verbindet, und so zum Be- wusstsein kommt als etwas, das künftig einmal auch in Uebung kommen wird, wenigstens kommen könnte.
Das hat, klarer als alle, Pestalozzi begriffen, und er ist davon ganz durchdrungen. Ihm danken wir denn auch belehrende Muster einer dieser Forderung genügenden Dar- stellung. Denn genau die eben beschriebene Aufgabe ist es, die er als "Menschenmaler"*) in "Lienhard und Gertrud" sich gestellt und, vorzüglich im ersten Teil, überaus glücklich ge- löst hat. Er schreibt mit vollem Bewusstsein für einen ganz bestimmten Lebenskreis, für scharf begrenzte, gegebene Be- dingungen. In dieser Begrenzung allerdings strebt er nach einer in gewissem Maasse erschöpfenden Lösung seiner Auf- gabe, die denn freilich nicht durchweg erreicht ist, und ihn aus dem anfangs so glücklich innegehaltenen Ton der reinen Erzählung mehr und mehr in den der abstrakten Lehre fallen lässt. Im Schlusswort seiner "Fabeln", die in andrer Rich- tung ein nicht minder merkwürdiges Muster bieten, hat Pesta- lozzi das schlichte Geheimnis seiner Darstellungsart klar aus- gesprochen. Er sei nichts weniger als ein unbedingter Feind und Verächter einseitiger Ansichten, er glaube im Gegen- teil, Glück und Segen von Millionen Menschen hänge wesent- lich von der stillen Reifung und inneren Vollendung einseitiger
*) S. die erste seiner "Fabeln".
aber doch eigentlich nicht nach dieser Seite geht er uns hier an. Sondern darauf kommt vielmehr alles an, dass die Lehre praktisch werden, dass sie den Willen bewegen muss. Und dazu genügt nicht, wie Herbart zu glauben scheint, eine blosse, thunlichst systematische, nach Einheit und Ganzheit strebende „Darstellung“ der vielgestaltigen Materie, auf die dann die Abstraktionsarbeit sich stützen kann. Aus solcher Darstellung und der dadurch bewirkten „Bildung des Gedankenkreises“ folgt eine Wirkung auf den Willen ohne weiteres noch nicht. Sondern diese Wirkung ist ganz und gar dadurch bedingt, dass, was der Zögling aus eigner Erfahrung und Uebung kennt, in die Mitte tritt, alles Andre aber sich damit in stetigem lückenlosem Fortschritt verbindet, und so zum Be- wusstsein kommt als etwas, das künftig einmal auch in Uebung kommen wird, wenigstens kommen könnte.
Das hat, klarer als alle, Pestalozzi begriffen, und er ist davon ganz durchdrungen. Ihm danken wir denn auch belehrende Muster einer dieser Forderung genügenden Dar- stellung. Denn genau die eben beschriebene Aufgabe ist es, die er als „Menschenmaler“*) in „Lienhard und Gertrud“ sich gestellt und, vorzüglich im ersten Teil, überaus glücklich ge- löst hat. Er schreibt mit vollem Bewusstsein für einen ganz bestimmten Lebenskreis, für scharf begrenzte, gegebene Be- dingungen. In dieser Begrenzung allerdings strebt er nach einer in gewissem Maasse erschöpfenden Lösung seiner Auf- gabe, die denn freilich nicht durchweg erreicht ist, und ihn aus dem anfangs so glücklich innegehaltenen Ton der reinen Erzählung mehr und mehr in den der abstrakten Lehre fallen lässt. Im Schlusswort seiner „Fabeln“, die in andrer Rich- tung ein nicht minder merkwürdiges Muster bieten, hat Pesta- lozzi das schlichte Geheimnis seiner Darstellungsart klar aus- gesprochen. Er sei nichts weniger als ein unbedingter Feind und Verächter einseitiger Ansichten, er glaube im Gegen- teil, Glück und Segen von Millionen Menschen hänge wesent- lich von der stillen Reifung und inneren Vollendung einseitiger
*) S. die erste seiner „Fabeln“.
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aber doch eigentlich nicht nach dieser Seite geht er uns hier
an. Sondern darauf kommt vielmehr alles an, dass die Lehre
praktisch werden, dass sie den Willen bewegen muss. Und
dazu genügt nicht, wie Herbart zu glauben scheint, eine blosse,
thunlichst systematische, nach Einheit und Ganzheit strebende
„Darstellung“ der vielgestaltigen Materie, auf die dann die
Abstraktionsarbeit sich stützen kann. Aus solcher Darstellung
und der dadurch bewirkten „Bildung des Gedankenkreises“
folgt eine Wirkung auf den Willen ohne weiteres noch nicht.
Sondern diese Wirkung ist ganz und gar dadurch bedingt,
dass, was der Zögling aus eigner Erfahrung und Uebung
kennt, in die Mitte tritt, alles Andre aber sich damit in
stetigem lückenlosem Fortschritt verbindet, und so zum Be-
wusstsein kommt als etwas, das künftig einmal auch in Uebung
kommen wird, wenigstens kommen könnte.
Das hat, klarer als alle, Pestalozzi begriffen, und er
ist davon ganz durchdrungen. Ihm danken wir denn auch
belehrende Muster einer dieser Forderung genügenden Dar-
stellung. Denn genau die eben beschriebene Aufgabe ist es,
die er als „Menschenmaler“ *) in „Lienhard und Gertrud“ sich
gestellt und, vorzüglich im ersten Teil, überaus glücklich ge-
löst hat. Er schreibt mit vollem Bewusstsein für einen ganz
bestimmten Lebenskreis, für scharf begrenzte, gegebene Be-
dingungen. In dieser Begrenzung allerdings strebt er nach
einer in gewissem Maasse erschöpfenden Lösung seiner Auf-
gabe, die denn freilich nicht durchweg erreicht ist, und ihn
aus dem anfangs so glücklich innegehaltenen Ton der reinen
Erzählung mehr und mehr in den der abstrakten Lehre fallen
lässt. Im Schlusswort seiner „Fabeln“, die in andrer Rich-
tung ein nicht minder merkwürdiges Muster bieten, hat Pesta-
lozzi das schlichte Geheimnis seiner Darstellungsart klar aus-
gesprochen. Er sei nichts weniger als ein unbedingter Feind
und Verächter einseitiger Ansichten, er glaube im Gegen-
teil, Glück und Segen von Millionen Menschen hänge wesent-
lich von der stillen Reifung und inneren Vollendung einseitiger
*) S. die erste seiner „Fabeln“.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/255>, abgerufen am 22.11.2024.
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