gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine selbst bei der Gottheit privilegierte Klasse, sondern allein an "den" Menschen oder an die Menschheit. So lange allerdings die Religion selbst nicht mit Entschiedenheit diesen Standpunkt einnimmt, ist die freie Bildungsarbeit an den Erwachsenen schon gezwungen, sich völlig abseits der Religion auf den Boden der blossen Sittlichkeit zu stellen, d. h. die Religion zwar nicht abzulehnen, aber rein dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen.
Und zwar nicht, um nun etwa irgend eine andre Auto- rität an deren Stelle zu setzen. Sie wird vielmehr demo- kratisch sein oder sie wird nicht sein. Sie wird sich in den wirtschaftlichen und politischen Kampf der gesellschaftlichen Klassen nicht mischen, aber das Befreiungsstreben der bisher am Leitbande der Autorität und des augenblicklichen rohen Interesses geführten Massen auch darin rein anerkennen. Welches auch die heutigen, vorübergehenden Formen jenes Kampfes sein mögen und welches seine Aussichten für eine nähere oder fernere Zukunft, unzweifelhaft bedeutet er für die unteren Klassen eine mächtige Aufraffung zu dem Mute eigener Besinnung und selbstthätigen Ringens um ein edleres, mensch- licheres Dasein. Keiner, der selbst in seiner Seele frei ist, kann darin je eine Gefahr erblicken. Wäre es aber eine, nun so gäbe es doch offenbar kein andres Mittel dawider, als dass man der geistigen Macht die stärkere geistige Macht, über die man zu verfügen meint, entgegenwirft. Man fasse immerhin die brennend notwendige geistige Erziehung der Völker als Kampf wider ihre gefährlichen Tendenzen auf; wird nur der Kampf mit Waffen des Geistes ausgefochten, so muss er zum guten Ende führen, gleichviel wer den Sieg behält. Trägt doch im geistigen Streit der Besiegte nicht kleineren Gewinn davon als der Sieger. So muss man denken -- wenn man die Wahrheit will und nicht die Macht um jeden Preis, auch um den Preis der Wahrheit.
Vielleicht werden Gutmeinende immer noch einwenden, dass wir in den alten Fehler fallen, von der Aufklärung des Verstandes allein alles zu erwarten; was doch durch viel-
gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine selbst bei der Gottheit privilegierte Klasse, sondern allein an „den“ Menschen oder an die Menschheit. So lange allerdings die Religion selbst nicht mit Entschiedenheit diesen Standpunkt einnimmt, ist die freie Bildungsarbeit an den Erwachsenen schon gezwungen, sich völlig abseits der Religion auf den Boden der blossen Sittlichkeit zu stellen, d. h. die Religion zwar nicht abzulehnen, aber rein dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen.
Und zwar nicht, um nun etwa irgend eine andre Auto- rität an deren Stelle zu setzen. Sie wird vielmehr demo- kratisch sein oder sie wird nicht sein. Sie wird sich in den wirtschaftlichen und politischen Kampf der gesellschaftlichen Klassen nicht mischen, aber das Befreiungsstreben der bisher am Leitbande der Autorität und des augenblicklichen rohen Interesses geführten Massen auch darin rein anerkennen. Welches auch die heutigen, vorübergehenden Formen jenes Kampfes sein mögen und welches seine Aussichten für eine nähere oder fernere Zukunft, unzweifelhaft bedeutet er für die unteren Klassen eine mächtige Aufraffung zu dem Mute eigener Besinnung und selbstthätigen Ringens um ein edleres, mensch- licheres Dasein. Keiner, der selbst in seiner Seele frei ist, kann darin je eine Gefahr erblicken. Wäre es aber eine, nun so gäbe es doch offenbar kein andres Mittel dawider, als dass man der geistigen Macht die stärkere geistige Macht, über die man zu verfügen meint, entgegenwirft. Man fasse immerhin die brennend notwendige geistige Erziehung der Völker als Kampf wider ihre gefährlichen Tendenzen auf; wird nur der Kampf mit Waffen des Geistes ausgefochten, so muss er zum guten Ende führen, gleichviel wer den Sieg behält. Trägt doch im geistigen Streit der Besiegte nicht kleineren Gewinn davon als der Sieger. So muss man denken — wenn man die Wahrheit will und nicht die Macht um jeden Preis, auch um den Preis der Wahrheit.
Vielleicht werden Gutmeinende immer noch einwenden, dass wir in den alten Fehler fallen, von der Aufklärung des Verstandes allein alles zu erwarten; was doch durch viel-
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gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine
selbst bei der Gottheit privilegierte Klasse, sondern allein an
„den“ Menschen oder an die Menschheit. So lange allerdings
die Religion selbst nicht mit Entschiedenheit diesen Standpunkt
einnimmt, ist die freie Bildungsarbeit an den Erwachsenen
schon gezwungen, sich völlig abseits der Religion auf den
Boden der blossen Sittlichkeit zu stellen, d. h. die Religion
zwar nicht abzulehnen, aber rein dem Gewissen des Einzelnen
zu überlassen.
Und zwar nicht, um nun etwa irgend eine andre Auto-
rität an deren Stelle zu setzen. Sie wird vielmehr demo-
kratisch sein oder sie wird nicht sein. Sie wird sich in den
wirtschaftlichen und politischen Kampf der gesellschaftlichen
Klassen nicht mischen, aber das Befreiungsstreben der bisher
am Leitbande der Autorität und des augenblicklichen rohen
Interesses geführten Massen auch darin rein anerkennen.
Welches auch die heutigen, vorübergehenden Formen jenes
Kampfes sein mögen und welches seine Aussichten für eine
nähere oder fernere Zukunft, unzweifelhaft bedeutet er für die
unteren Klassen eine mächtige Aufraffung zu dem Mute eigener
Besinnung und selbstthätigen Ringens um ein edleres, mensch-
licheres Dasein. Keiner, der selbst in seiner Seele frei ist,
kann darin je eine Gefahr erblicken. Wäre es aber eine, nun
so gäbe es doch offenbar kein andres Mittel dawider, als dass
man der geistigen Macht die stärkere geistige Macht, über die
man zu verfügen meint, entgegenwirft. Man fasse immerhin
die brennend notwendige geistige Erziehung der Völker als
Kampf wider ihre gefährlichen Tendenzen auf; wird nur der
Kampf mit Waffen des Geistes ausgefochten, so muss er zum
guten Ende führen, gleichviel wer den Sieg behält. Trägt
doch im geistigen Streit der Besiegte nicht kleineren Gewinn
davon als der Sieger. So muss man denken — wenn man
die Wahrheit will und nicht die Macht um jeden Preis, auch
um den Preis der Wahrheit.
Vielleicht werden Gutmeinende immer noch einwenden,
dass wir in den alten Fehler fallen, von der Aufklärung des
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/234>, abgerufen am 24.11.2024.
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