Die Aufstellung des Prinzips stützt sich auf die einzige Voraussetzung: dass die Gesetzlichkeit der Entwicklung im letzten Grunde eine und dieselbe sein muss für alles, was irgend eine Gestaltung des Bewusstseins ist; weil sie eben ihre Wurzel haben muss im Grundgesetze des Bewusstseins selbst.
Wäre nun für ein einzelnes Gebiet des Bewusstseins, wo- möglich für das, welches für alle andern die Grundlage bietet, das fundamentale Entwicklungsgesetz gefunden, so würde die Uebertragung auf die übrigen Gebiete sich leicht vollziehen lassen, und man dürfte voraus erwarten, dass sie zu richtigen Ergebnissen führt.
Nun pflegt allgemein zugestanden, ja für selbstverständ- lich gehalten zu werden, dass es jedenfalls im Naturerken- nen einen Fortschritt von festbestimmter Richtung gebe. Und doch ist das an sich nicht selbstverständlicher als der Fortschritt auf irgend einem andern Gebiet des Geistes. Das hätte längst auf die Frage führen müssen, ob nicht ein analoges, ja dasselbe letzte Gesetz in allen andern Gebieten geistigen Lebens walte. Aber man hielt die Gesetzlichkeit der Natur für etwas, das ausser uns da sei, in dessen Er- kenntnis wir also nur von aussen eindrängen. Allein, wenn nicht diese Gesetzlichkeit, dem letzten regierenden Prinzip nach, vielmehr Gesetzlichkeit des Bewusstseins wäre, so wäre es widersinnig, den allein möglichen Fortgang ihrer Erkennt- nis vor der Erfahrung voraus auf einen allgemeinen Ausdruck bringen zu wollen, wie man es, nur ohne gehörige Besinnung, gleichwohl immer thut.
Dagegen bot der erkenntniskritische Weg, den Kant der Philosophie eröffnet hat, von Anfang an die Möglichkeit, ja musste direkt auffordern, ein Prinzip der verlangten Art auf deduktivem Wege aufzustellen. Kant selbst hat es aufgestellt, indem sich ihm als letztes Resultat seiner neuen Grundlegung der "Erfahrung" gewisse "regulative Prinzipien" ergaben, nach denen die Naturerkenntnis sich ihrem unendlich fernen Ziele "asymptotisch", d. h. ohne es je zu erreichen, doch an- nähern müsse. Seine drei regulativen Prinzipien sind die der Homogeneität, der Spezifikation, und der Kontinuität oder
Die Aufstellung des Prinzips stützt sich auf die einzige Voraussetzung: dass die Gesetzlichkeit der Entwicklung im letzten Grunde eine und dieselbe sein muss für alles, was irgend eine Gestaltung des Bewusstseins ist; weil sie eben ihre Wurzel haben muss im Grundgesetze des Bewusstseins selbst.
Wäre nun für ein einzelnes Gebiet des Bewusstseins, wo- möglich für das, welches für alle andern die Grundlage bietet, das fundamentale Entwicklungsgesetz gefunden, so würde die Uebertragung auf die übrigen Gebiete sich leicht vollziehen lassen, und man dürfte voraus erwarten, dass sie zu richtigen Ergebnissen führt.
Nun pflegt allgemein zugestanden, ja für selbstverständ- lich gehalten zu werden, dass es jedenfalls im Naturerken- nen einen Fortschritt von festbestimmter Richtung gebe. Und doch ist das an sich nicht selbstverständlicher als der Fortschritt auf irgend einem andern Gebiet des Geistes. Das hätte längst auf die Frage führen müssen, ob nicht ein analoges, ja dasselbe letzte Gesetz in allen andern Gebieten geistigen Lebens walte. Aber man hielt die Gesetzlichkeit der Natur für etwas, das ausser uns da sei, in dessen Er- kenntnis wir also nur von aussen eindrängen. Allein, wenn nicht diese Gesetzlichkeit, dem letzten regierenden Prinzip nach, vielmehr Gesetzlichkeit des Bewusstseins wäre, so wäre es widersinnig, den allein möglichen Fortgang ihrer Erkennt- nis vor der Erfahrung voraus auf einen allgemeinen Ausdruck bringen zu wollen, wie man es, nur ohne gehörige Besinnung, gleichwohl immer thut.
Dagegen bot der erkenntniskritische Weg, den Kant der Philosophie eröffnet hat, von Anfang an die Möglichkeit, ja musste direkt auffordern, ein Prinzip der verlangten Art auf deduktivem Wege aufzustellen. Kant selbst hat es aufgestellt, indem sich ihm als letztes Resultat seiner neuen Grundlegung der „Erfahrung“ gewisse „regulative Prinzipien“ ergaben, nach denen die Naturerkenntnis sich ihrem unendlich fernen Ziele „asymptotisch“, d. h. ohne es je zu erreichen, doch an- nähern müsse. Seine drei regulativen Prinzipien sind die der Homogeneïtät, der Spezifikation, und der Kontinuität oder
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Die Aufstellung des Prinzips stützt sich auf die einzige
Voraussetzung: dass die Gesetzlichkeit der Entwicklung im
letzten Grunde eine und dieselbe sein muss für alles, was
irgend eine Gestaltung des Bewusstseins ist; weil sie eben ihre
Wurzel haben muss im Grundgesetze des Bewusstseins selbst.
Wäre nun für ein einzelnes Gebiet des Bewusstseins, wo-
möglich für das, welches für alle andern die Grundlage bietet,
das fundamentale Entwicklungsgesetz gefunden, so würde die
Uebertragung auf die übrigen Gebiete sich leicht vollziehen
lassen, und man dürfte voraus erwarten, dass sie zu richtigen
Ergebnissen führt.
Nun pflegt allgemein zugestanden, ja für selbstverständ-
lich gehalten zu werden, dass es jedenfalls im Naturerken-
nen einen Fortschritt von festbestimmter Richtung
gebe. Und doch ist das an sich nicht selbstverständlicher als
der Fortschritt auf irgend einem andern Gebiet des Geistes.
Das hätte längst auf die Frage führen müssen, ob nicht ein
analoges, ja dasselbe letzte Gesetz in allen andern Gebieten
geistigen Lebens walte. Aber man hielt die Gesetzlichkeit
der Natur für etwas, das ausser uns da sei, in dessen Er-
kenntnis wir also nur von aussen eindrängen. Allein, wenn
nicht diese Gesetzlichkeit, dem letzten regierenden Prinzip
nach, vielmehr Gesetzlichkeit des Bewusstseins wäre, so wäre
es widersinnig, den allein möglichen Fortgang ihrer Erkennt-
nis vor der Erfahrung voraus auf einen allgemeinen Ausdruck
bringen zu wollen, wie man es, nur ohne gehörige Besinnung,
gleichwohl immer thut.
Dagegen bot der erkenntniskritische Weg, den Kant der
Philosophie eröffnet hat, von Anfang an die Möglichkeit, ja
musste direkt auffordern, ein Prinzip der verlangten Art auf
deduktivem Wege aufzustellen. Kant selbst hat es aufgestellt,
indem sich ihm als letztes Resultat seiner neuen Grundlegung
der „Erfahrung“ gewisse „regulative Prinzipien“ ergaben,
nach denen die Naturerkenntnis sich ihrem unendlich fernen
Ziele „asymptotisch“, d. h. ohne es je zu erreichen, doch an-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/184>, abgerufen am 04.12.2024.
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