Eine gewisse Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu setzen, muss den ursprünglichen drei Faktoren des sozialen Lebens nach ihrem nachgewiesenen inneren Verhältnis zu ein- ander überhaupt innewohnen und also auf jeder gegebenen Stufe des Gemeinschaftslebens sich in gewissem Maasse wirk- sam erweisen. Allein dies thatsächlich immer vorhandene, sozusagen mechanische Gleichgewicht ist nur ein labiles, da die Faktoren selbst und so auch ihr wechelseitiges Verhältnis stetiger Veränderlichkeit unterliegt. Jetzt aber ist die Frage nach dem Gesetz, wonach das seinsollende Verhältnis der drei Faktoren in unwandelbarer Einheit, für jeden gegebenen Zeitpunkt gültig, also als ein stabiles sich bestimme. Die Richtung von dem gegebenen Stande des Gemeinschaftslebens auf dies sein ideales Ziel hin wird dann seine fernere, nämlich sittlich geforderte Entwicklung, und damit die soziale Pflicht eines jeden ihrer Glieder für den gegebenen Zeitpunkt vor- zeichnen.
Das ist freilich nicht der gewöhnliche Weg, zu einem sozialen Entwicklungsgesetz zu gelangen. Man sucht einem solchen vielmehr dadurch auf die Spur zu kommen, dass man der thatsächlichen Tendenz der bisherigen sozialen Entwick- lung empirisch nachgeht und sie auf einen einheitlichen Aus- druck zu bringen sucht, der etwa auch mehr oder minder sichere Schlüsse auf die kommende Entwicklung gestatte. In solchem Sinne pflegt man von Gesetzen der sozialen Ent- wicklung im Sinne von Naturgesetzen zu sprechen, in- dem der Werdegang des sozialen "Organismus" nach der nahe- liegenden Analogie des pflanzlichen oder tierischen Wachstums vorgestellt wird. Allein diese Analogie ist trüglich. Das Wachstum der Organismen ist in festem Kreislauf begrenzt; es hat ein angebbares Maximum, über das die Möglichkeit der Entwicklung für die gegebene Art nicht hinausreicht; wenig- stens würde sich nur unter Voraussetzung eines solchen Maxi- mums der Gang der organischen Entwicklung auf naturgesetz- lichen, d. i. empirisch-kausalen Ausdruck bringen lassen (§ 2). Nun aber handelt es sich um die Entwicklung des Bewusst- seins. Diese lässt sich in keine empirischen Schranken ein-
Natorp, Sozialpädagogik. 11
Eine gewisse Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu setzen, muss den ursprünglichen drei Faktoren des sozialen Lebens nach ihrem nachgewiesenen inneren Verhältnis zu ein- ander überhaupt innewohnen und also auf jeder gegebenen Stufe des Gemeinschaftslebens sich in gewissem Maasse wirk- sam erweisen. Allein dies thatsächlich immer vorhandene, sozusagen mechanische Gleichgewicht ist nur ein labiles, da die Faktoren selbst und so auch ihr wechelseitiges Verhältnis stetiger Veränderlichkeit unterliegt. Jetzt aber ist die Frage nach dem Gesetz, wonach das seinsollende Verhältnis der drei Faktoren in unwandelbarer Einheit, für jeden gegebenen Zeitpunkt gültig, also als ein stabiles sich bestimme. Die Richtung von dem gegebenen Stande des Gemeinschaftslebens auf dies sein ideales Ziel hin wird dann seine fernere, nämlich sittlich geforderte Entwicklung, und damit die soziale Pflicht eines jeden ihrer Glieder für den gegebenen Zeitpunkt vor- zeichnen.
Das ist freilich nicht der gewöhnliche Weg, zu einem sozialen Entwicklungsgesetz zu gelangen. Man sucht einem solchen vielmehr dadurch auf die Spur zu kommen, dass man der thatsächlichen Tendenz der bisherigen sozialen Entwick- lung empirisch nachgeht und sie auf einen einheitlichen Aus- druck zu bringen sucht, der etwa auch mehr oder minder sichere Schlüsse auf die kommende Entwicklung gestatte. In solchem Sinne pflegt man von Gesetzen der sozialen Ent- wicklung im Sinne von Naturgesetzen zu sprechen, in- dem der Werdegang des sozialen „Organismus“ nach der nahe- liegenden Analogie des pflanzlichen oder tierischen Wachstums vorgestellt wird. Allein diese Analogie ist trüglich. Das Wachstum der Organismen ist in festem Kreislauf begrenzt; es hat ein angebbares Maximum, über das die Möglichkeit der Entwicklung für die gegebene Art nicht hinausreicht; wenig- stens würde sich nur unter Voraussetzung eines solchen Maxi- mums der Gang der organischen Entwicklung auf naturgesetz- lichen, d. i. empirisch-kausalen Ausdruck bringen lassen (§ 2). Nun aber handelt es sich um die Entwicklung des Bewusst- seins. Diese lässt sich in keine empirischen Schranken ein-
Natorp, Sozialpädagogik. 11
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Eine gewisse Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu
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Stufe des Gemeinschaftslebens sich in gewissem Maasse wirk-
sam erweisen. Allein dies thatsächlich immer vorhandene,
sozusagen mechanische Gleichgewicht ist nur ein labiles, da
die Faktoren selbst und so auch ihr wechelseitiges Verhältnis
stetiger Veränderlichkeit unterliegt. Jetzt aber ist die Frage
nach dem Gesetz, wonach das seinsollende Verhältnis der drei
Faktoren in unwandelbarer Einheit, für jeden gegebenen
Zeitpunkt gültig, also als ein stabiles sich bestimme. Die
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auf dies sein ideales Ziel hin wird dann seine fernere, nämlich
sittlich geforderte Entwicklung, und damit die soziale Pflicht
eines jeden ihrer Glieder für den gegebenen Zeitpunkt vor-
zeichnen.
Das ist freilich nicht der gewöhnliche Weg, zu einem
sozialen Entwicklungsgesetz zu gelangen. Man sucht einem
solchen vielmehr dadurch auf die Spur zu kommen, dass man
der thatsächlichen Tendenz der bisherigen sozialen Entwick-
lung empirisch nachgeht und sie auf einen einheitlichen Aus-
druck zu bringen sucht, der etwa auch mehr oder minder
sichere Schlüsse auf die kommende Entwicklung gestatte. In
solchem Sinne pflegt man von Gesetzen der sozialen Ent-
wicklung im Sinne von Naturgesetzen zu sprechen, in-
dem der Werdegang des sozialen „Organismus“ nach der nahe-
liegenden Analogie des pflanzlichen oder tierischen Wachstums
vorgestellt wird. Allein diese Analogie ist trüglich. Das
Wachstum der Organismen ist in festem Kreislauf begrenzt;
es hat ein angebbares Maximum, über das die Möglichkeit der
Entwicklung für die gegebene Art nicht hinausreicht; wenig-
stens würde sich nur unter Voraussetzung eines solchen Maxi-
mums der Gang der organischen Entwicklung auf naturgesetz-
lichen, d. i. empirisch-kausalen Ausdruck bringen lassen (§ 2).
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/177>, abgerufen am 03.12.2024.
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