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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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triebe. So aber giebt es notwendig ein Triebleben der Ge-
meinschaft, einen Willen der Gemeinschaft und eine Vernunft
der Gemeinschaft; nicht als ob die Gemeinschaft ein selbstän-
diges Wesen wäre, was keinen klar ausdenkbaren Sinn hat,
sondern indem man erwägt, welche Gestalt das Triebleben der
Einzelnen in der Gemeinschaft, unter der Bedingung des Lebens
in ihr, gesetzmässigerweise annehmen, und wie der Wille, wie
die Vernunft unter der gleichen Bedingung sich gestalten
muss. Daraus müssen die wesentlichen Elemente sich ergeben,
aus denen ein soziales Leben sich zusammensetzt, ebenso
wie aus Trieb, Willen und Vernunft das Leben des Indivi-
duums in praktischer Hinsicht überhaupt besteht und durch
das gesetzliche Verhältnis dieser drei Faktoren seinem Be-
griff nach bestimmt ist.

Als Trieb nun bezeichneten wir die sinnliche Urform der Ten-
denz, sofern sie unmittelbar auf die Sache, auf Verwirklichung
eines Erstrebten, also auf Hervorbringung eines Werks gerichtet
ist. Als den grundlegenden Faktor des Triebs betrachten wir also
den Thätigkeits- oder noch bestimmter den Arbeitstrieb,
nicht den Genusstrieb. Ein gewisses Maass von Befriedigung
ist zwar zur Erhaltung der Energie der Arbeitstriebe selbst
unerlässlich, wie es denn mit deren gesunder Bethätigung über-
haupt von selbst sich einstellt. An sich aber hat der Trieb
im Genuss nicht sein Leben, er erstirbt vielmehr in ihm.
Leben heisst thätig sein, und Thätigkeit verlangt, ihrer eigenen
Gesundheit wegen, ein Werk, an dem sie sich darstelle; das
giebt ihr die Einheit der Richtung, deren sie zu ihrer Gesund-
heit auch dann bedarf, wenn sie nicht als bewusst gewollter
Zweck vor Augen steht, sondern nur an sich ihr immanent
ist. Das Bewusstsein der Einheit des Zwecks, mit der Folge
der ebenso bewussten Unterordnung der Mittel unter den
Zweck, ist es dagegen, was den eigentlichen Willen ausmacht;
also die Regelung der Arbeit; eine Thätigkeit, die sich
unmittelbar nicht auf das Werk und dessen Hervorbringung,
sondern auf die es hervorbringende Arbeit und die Triebkräfte
dieser Arbeit richtet. Ebenso hat drittens die Vernunftthätig-
keit zu ihrem unmittelbaren Objekt die Willensregelung als

triebe. So aber giebt es notwendig ein Triebleben der Ge-
meinschaft, einen Willen der Gemeinschaft und eine Vernunft
der Gemeinschaft; nicht als ob die Gemeinschaft ein selbstän-
diges Wesen wäre, was keinen klar ausdenkbaren Sinn hat,
sondern indem man erwägt, welche Gestalt das Triebleben der
Einzelnen in der Gemeinschaft, unter der Bedingung des Lebens
in ihr, gesetzmässigerweise annehmen, und wie der Wille, wie
die Vernunft unter der gleichen Bedingung sich gestalten
muss. Daraus müssen die wesentlichen Elemente sich ergeben,
aus denen ein soziales Leben sich zusammensetzt, ebenso
wie aus Trieb, Willen und Vernunft das Leben des Indivi-
duums in praktischer Hinsicht überhaupt besteht und durch
das gesetzliche Verhältnis dieser drei Faktoren seinem Be-
griff nach bestimmt ist.

Als Trieb nun bezeichneten wir die sinnliche Urform der Ten-
denz, sofern sie unmittelbar auf die Sache, auf Verwirklichung
eines Erstrebten, also auf Hervorbringung eines Werks gerichtet
ist. Als den grundlegenden Faktor des Triebs betrachten wir also
den Thätigkeits- oder noch bestimmter den Arbeitstrieb,
nicht den Genusstrieb. Ein gewisses Maass von Befriedigung
ist zwar zur Erhaltung der Energie der Arbeitstriebe selbst
unerlässlich, wie es denn mit deren gesunder Bethätigung über-
haupt von selbst sich einstellt. An sich aber hat der Trieb
im Genuss nicht sein Leben, er erstirbt vielmehr in ihm.
Leben heisst thätig sein, und Thätigkeit verlangt, ihrer eigenen
Gesundheit wegen, ein Werk, an dem sie sich darstelle; das
giebt ihr die Einheit der Richtung, deren sie zu ihrer Gesund-
heit auch dann bedarf, wenn sie nicht als bewusst gewollter
Zweck vor Augen steht, sondern nur an sich ihr immanent
ist. Das Bewusstsein der Einheit des Zwecks, mit der Folge
der ebenso bewussten Unterordnung der Mittel unter den
Zweck, ist es dagegen, was den eigentlichen Willen ausmacht;
also die Regelung der Arbeit; eine Thätigkeit, die sich
unmittelbar nicht auf das Werk und dessen Hervorbringung,
sondern auf die es hervorbringende Arbeit und die Triebkräfte
dieser Arbeit richtet. Ebenso hat drittens die Vernunftthätig-
keit zu ihrem unmittelbaren Objekt die Willensregelung als

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[133/0149] triebe. So aber giebt es notwendig ein Triebleben der Ge- meinschaft, einen Willen der Gemeinschaft und eine Vernunft der Gemeinschaft; nicht als ob die Gemeinschaft ein selbstän- diges Wesen wäre, was keinen klar ausdenkbaren Sinn hat, sondern indem man erwägt, welche Gestalt das Triebleben der Einzelnen in der Gemeinschaft, unter der Bedingung des Lebens in ihr, gesetzmässigerweise annehmen, und wie der Wille, wie die Vernunft unter der gleichen Bedingung sich gestalten muss. Daraus müssen die wesentlichen Elemente sich ergeben, aus denen ein soziales Leben sich zusammensetzt, ebenso wie aus Trieb, Willen und Vernunft das Leben des Indivi- duums in praktischer Hinsicht überhaupt besteht und durch das gesetzliche Verhältnis dieser drei Faktoren seinem Be- griff nach bestimmt ist. Als Trieb nun bezeichneten wir die sinnliche Urform der Ten- denz, sofern sie unmittelbar auf die Sache, auf Verwirklichung eines Erstrebten, also auf Hervorbringung eines Werks gerichtet ist. Als den grundlegenden Faktor des Triebs betrachten wir also den Thätigkeits- oder noch bestimmter den Arbeitstrieb, nicht den Genusstrieb. Ein gewisses Maass von Befriedigung ist zwar zur Erhaltung der Energie der Arbeitstriebe selbst unerlässlich, wie es denn mit deren gesunder Bethätigung über- haupt von selbst sich einstellt. An sich aber hat der Trieb im Genuss nicht sein Leben, er erstirbt vielmehr in ihm. Leben heisst thätig sein, und Thätigkeit verlangt, ihrer eigenen Gesundheit wegen, ein Werk, an dem sie sich darstelle; das giebt ihr die Einheit der Richtung, deren sie zu ihrer Gesund- heit auch dann bedarf, wenn sie nicht als bewusst gewollter Zweck vor Augen steht, sondern nur an sich ihr immanent ist. Das Bewusstsein der Einheit des Zwecks, mit der Folge der ebenso bewussten Unterordnung der Mittel unter den Zweck, ist es dagegen, was den eigentlichen Willen ausmacht; also die Regelung der Arbeit; eine Thätigkeit, die sich unmittelbar nicht auf das Werk und dessen Hervorbringung, sondern auf die es hervorbringende Arbeit und die Triebkräfte dieser Arbeit richtet. Ebenso hat drittens die Vernunftthätig- keit zu ihrem unmittelbaren Objekt die Willensregelung als

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/149>, abgerufen am 27.04.2024.