für dieselbe Sache. Das Wort Liebe schliesst aber noch etwas Eigentümliches ein, nämlich einen starken Beisatz von Gefühl, der der Gerechtigkeit an sich fremd ist. Gerechtigkeit wird auch blind vorgestellt, aber in ganz anderm Sinne als die Liebe; die Blindheit besagt hier die strenge Unparteilichkeit, die persönliche Unbeteiligtheit des Urteilenden bei dem Gegen- stande des Urteils. Allein muss man denn fühllos sein, um nicht parteiisch zu werden? Sollte nicht Liebe, eben dadurch, dass sie sich auf das Höchste im Menschen, auf die sittliche Person richtet, geläutert werden können, ohne an Kraft und Innigkeit des Gefühls darum zu verlieren? Und würde sie eben dann nicht aufhören, mit der Gerechtigkeit zu streiten, während sie zugleich ein neues, dieser an sich fremdes, doch unverwerfliches Moment hinzuthut?
Es ist besonders die christliche Ethik, die den Begriff der Liebe an die Spitze gestellt hat. Und vielleicht ist es nur scheinbar so, dass sie dadurch mit der Gerechtigkeit in Streit geriete. Die Forderung z. B., nicht bloss den Feind, sondern den Sünder zu lieben, kann verständlich nur besagen, dass man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, dass man um des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der in ihm schlummert, ihn nie ganz verloren geben, ja selbst wenn er verloren wäre, doch bedenken soll, dass es ein Mensch ist, der verloren ist, d. h. ein Wesen, das an sich des Guten fähig war und unter andern Bedingungen hätte gerettet werden können, also auch sollen. Das ist aber ebenso wohl Forderung der Ge- rechtigkeit. Desgleichen kann die vergebende Liebe nicht be- sagen, dass man aufhören sollte, das Schlechte zu verwerfen (dann wäre nichts zu vergeben), sondern nur den Schlechten; nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern er an sich des Guten fähig ist. In solchem Sinne ist aber die Vergebung ebenso sehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie der Liebe.
Allerdings kann nun die erbarmende, die vergebende Liebe sehr leicht einen Beischmack entweder von sittlicher Schwäche oder von selbstgerechter Herablassung annehmen. Der Begriff "Liebe" bedarf also erst sehr der Klärung, ehe er verwendet werden kann, das rein sittliche Verhalten zum Andern un-
für dieselbe Sache. Das Wort Liebe schliesst aber noch etwas Eigentümliches ein, nämlich einen starken Beisatz von Gefühl, der der Gerechtigkeit an sich fremd ist. Gerechtigkeit wird auch blind vorgestellt, aber in ganz anderm Sinne als die Liebe; die Blindheit besagt hier die strenge Unparteilichkeit, die persönliche Unbeteiligtheit des Urteilenden bei dem Gegen- stande des Urteils. Allein muss man denn fühllos sein, um nicht parteiisch zu werden? Sollte nicht Liebe, eben dadurch, dass sie sich auf das Höchste im Menschen, auf die sittliche Person richtet, geläutert werden können, ohne an Kraft und Innigkeit des Gefühls darum zu verlieren? Und würde sie eben dann nicht aufhören, mit der Gerechtigkeit zu streiten, während sie zugleich ein neues, dieser an sich fremdes, doch unverwerfliches Moment hinzuthut?
Es ist besonders die christliche Ethik, die den Begriff der Liebe an die Spitze gestellt hat. Und vielleicht ist es nur scheinbar so, dass sie dadurch mit der Gerechtigkeit in Streit geriete. Die Forderung z. B., nicht bloss den Feind, sondern den Sünder zu lieben, kann verständlich nur besagen, dass man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, dass man um des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der in ihm schlummert, ihn nie ganz verloren geben, ja selbst wenn er verloren wäre, doch bedenken soll, dass es ein Mensch ist, der verloren ist, d. h. ein Wesen, das an sich des Guten fähig war und unter andern Bedingungen hätte gerettet werden können, also auch sollen. Das ist aber ebenso wohl Forderung der Ge- rechtigkeit. Desgleichen kann die vergebende Liebe nicht be- sagen, dass man aufhören sollte, das Schlechte zu verwerfen (dann wäre nichts zu vergeben), sondern nur den Schlechten; nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern er an sich des Guten fähig ist. In solchem Sinne ist aber die Vergebung ebenso sehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie der Liebe.
Allerdings kann nun die erbarmende, die vergebende Liebe sehr leicht einen Beischmack entweder von sittlicher Schwäche oder von selbstgerechter Herablassung annehmen. Der Begriff „Liebe“ bedarf also erst sehr der Klärung, ehe er verwendet werden kann, das rein sittliche Verhalten zum Andern un-
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Liebe; die Blindheit besagt hier die strenge Unparteilichkeit,
die persönliche Unbeteiligtheit des Urteilenden bei dem Gegen-
stande des Urteils. Allein muss man denn fühllos sein, um
nicht parteiisch zu werden? Sollte nicht Liebe, eben dadurch,
dass sie sich auf das Höchste im Menschen, auf die sittliche
Person richtet, geläutert werden können, ohne an Kraft und
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eben dann nicht aufhören, mit der Gerechtigkeit zu streiten,
während sie zugleich ein neues, dieser an sich fremdes, doch
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Es ist besonders die christliche Ethik, die den Begriff der
Liebe an die Spitze gestellt hat. Und vielleicht ist es nur
scheinbar so, dass sie dadurch mit der Gerechtigkeit in Streit
geriete. Die Forderung z. B., nicht bloss den Feind, sondern
den Sünder zu lieben, kann verständlich nur besagen, dass
man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, dass man
um des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der
in ihm schlummert, ihn nie ganz verloren geben, ja selbst
wenn er verloren wäre, doch bedenken soll, dass es ein Mensch
ist, der verloren ist, d. h. ein Wesen, das an sich des Guten fähig
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also auch sollen. Das ist aber ebenso wohl Forderung der Ge-
rechtigkeit. Desgleichen kann die vergebende Liebe nicht be-
sagen, dass man aufhören sollte, das Schlechte zu verwerfen
(dann wäre nichts zu vergeben), sondern nur den Schlechten;
nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern er an sich
des Guten fähig ist. In solchem Sinne ist aber die Vergebung
ebenso sehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie der Liebe.
Allerdings kann nun die erbarmende, die vergebende Liebe
sehr leicht einen Beischmack entweder von sittlicher Schwäche
oder von selbstgerechter Herablassung annehmen. Der Begriff
„Liebe“ bedarf also erst sehr der Klärung, ehe er verwendet
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/144>, abgerufen am 27.11.2024.
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