Thuns ist das einzige Neue, was hinzukommt; darin ist die Eigentümlichkeit dieser Tugend erschöpft.
Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend des Individuums rechnen? -- Wir schieden individuale und soziale Tugend nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt wird, und nach dem Ziele, worauf sie sich richtet. Individual also ist sie, wenn sie das Individuum, sozial, wenn sie die Gemein- schaft zum Subjekt hat; und die sittliche Ordnung des Indi- viduallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im letzteren ihr Ziel. Beides ist nun zwar untrennbar; aber die Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ord- nung des Individuallebens gehört aber auch die Ordnung der Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft, soweit sie von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Individuums abhängt. Dass das einen Unterschied macht, tritt darin klar zu Tage, dass ein gerechtes Verhalten vom Individuum auch dann gefordert wird, wenn die Gemeinschaft, der es zugehört, einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht dem Einzelnen auch gar kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine gerechtere Gemeinschaftsordnung direkt hinzuwirken.
Auch lässt sich nicht behaupten, dass die Tugend der Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben hätte, dass man gerecht sein sollte bloss um der Gemeinschaft, nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch irgend ein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft für immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre unmittel- bare Anwendbarkeit verlieren. Allein schon in jedem Gedanken an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung auch für ihn behalten; es wäre für ihn selbst nicht gleichgültig, ob er sie auch da wegwürfe oder nicht. Aber auch wer in mensch- licher Gemeinschaft lebt, muss Gerechtigkeit üben nicht nur im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also guten Grund, wenn Plato die Gerechtigkeit als ebensowohl indivi- duale wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ab- leitung der Gerechtigkeit als individualer Tugend die unerläss- liche Beziehung auf die Gemeinschaft allzu sehr zurück. Die
Thuns ist das einzige Neue, was hinzukommt; darin ist die Eigentümlichkeit dieser Tugend erschöpft.
Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend des Individuums rechnen? — Wir schieden individuale und soziale Tugend nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt wird, und nach dem Ziele, worauf sie sich richtet. Individual also ist sie, wenn sie das Individuum, sozial, wenn sie die Gemein- schaft zum Subjekt hat; und die sittliche Ordnung des Indi- viduallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im letzteren ihr Ziel. Beides ist nun zwar untrennbar; aber die Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ord- nung des Individuallebens gehört aber auch die Ordnung der Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft, soweit sie von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Individuums abhängt. Dass das einen Unterschied macht, tritt darin klar zu Tage, dass ein gerechtes Verhalten vom Individuum auch dann gefordert wird, wenn die Gemeinschaft, der es zugehört, einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht dem Einzelnen auch gar kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine gerechtere Gemeinschaftsordnung direkt hinzuwirken.
Auch lässt sich nicht behaupten, dass die Tugend der Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben hätte, dass man gerecht sein sollte bloss um der Gemeinschaft, nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch irgend ein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft für immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre unmittel- bare Anwendbarkeit verlieren. Allein schon in jedem Gedanken an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung auch für ihn behalten; es wäre für ihn selbst nicht gleichgültig, ob er sie auch da wegwürfe oder nicht. Aber auch wer in mensch- licher Gemeinschaft lebt, muss Gerechtigkeit üben nicht nur im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also guten Grund, wenn Plato die Gerechtigkeit als ebensowohl indivi- duale wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ab- leitung der Gerechtigkeit als individualer Tugend die unerläss- liche Beziehung auf die Gemeinschaft allzu sehr zurück. Die
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Thuns ist das einzige Neue, was hinzukommt; darin ist die
Eigentümlichkeit dieser Tugend erschöpft.
Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend
des Individuums rechnen? — Wir schieden individuale und
soziale Tugend nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt wird,
und nach dem Ziele, worauf sie sich richtet. Individual also
ist sie, wenn sie das Individuum, sozial, wenn sie die Gemein-
schaft zum Subjekt hat; und die sittliche Ordnung des Indi-
viduallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im
letzteren ihr Ziel. Beides ist nun zwar untrennbar; aber die
Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ord-
nung des Individuallebens gehört aber auch die Ordnung der
Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft, soweit sie
von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Individuums
abhängt. Dass das einen Unterschied macht, tritt darin klar
zu Tage, dass ein gerechtes Verhalten vom Individuum auch
dann gefordert wird, wenn die Gemeinschaft, der es zugehört,
einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht dem Einzelnen
auch gar kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine gerechtere
Gemeinschaftsordnung direkt hinzuwirken.
Auch lässt sich nicht behaupten, dass die Tugend der
Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben
hätte, dass man gerecht sein sollte bloss um der Gemeinschaft,
nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch
irgend ein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft für
immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre unmittel-
bare Anwendbarkeit verlieren. Allein schon in jedem Gedanken
an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung auch für
ihn behalten; es wäre für ihn selbst nicht gleichgültig, ob er
sie auch da wegwürfe oder nicht. Aber auch wer in mensch-
licher Gemeinschaft lebt, muss Gerechtigkeit üben nicht nur
im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr
im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also guten
Grund, wenn Plato die Gerechtigkeit als ebensowohl indivi-
duale wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ab-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/136>, abgerufen am 21.11.2024.
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