Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn
man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln lässt, so verfällt
man dann leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder
zwei so ehrliche Naturen wie Kierkegaard und Tolstoj), und
gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestim-
mung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für un-
keusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche Tugend
in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unver-
letzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende
wahrhafter und also sittlicher scheinen, sie ganz und gar als
thörichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Natur-
gebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns
und Denkens zu erheben. Oder endlich, man versteht unter
der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld, d. h. Un-
wissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit
über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, mit eigener Be-
gehrungslosigkeit, also das Verharren im Kindesstande, auf
den man selbst wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt,
den man aber dem heranwachsenden, ja dem erwachsenen --
Weibe zumutet. Denn dem Manne kann man sie nicht wohl
zumuten; er soll doch den Wirklichkeiten des Menschen-
daseins ins Auge sehen lernen. Das heisst aber das Weib mit
einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so
zweifellose, unerlässliche Tugenden wie Wahrheit und Tapfer-
keit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt
höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend,
welche diese Unterscheidung und damit diesen ganzen Begriff
der Keuschheit als "Unschuld" verwirft. Wahre Unschuld ist
nur die, die das Schuldlose auch schuldlos nimmt, um so
sicherer, je fremder ihr die wahre Schuld der Unkeuschheit ist.

Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen
Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich
Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vor-
bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann
aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen
wie sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestim-
mung. Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung.

Natorp, Sozialpädagogik. 8

Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn
man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln lässt, so verfällt
man dann leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder
zwei so ehrliche Naturen wie Kierkegaard und Tolstoj), und
gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestim-
mung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für un-
keusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche Tugend
in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unver-
letzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende
wahrhafter und also sittlicher scheinen, sie ganz und gar als
thörichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Natur-
gebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns
und Denkens zu erheben. Oder endlich, man versteht unter
der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld, d. h. Un-
wissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit
über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, mit eigener Be-
gehrungslosigkeit, also das Verharren im Kindesstande, auf
den man selbst wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt,
den man aber dem heranwachsenden, ja dem erwachsenen —
Weibe zumutet. Denn dem Manne kann man sie nicht wohl
zumuten; er soll doch den Wirklichkeiten des Menschen-
daseins ins Auge sehen lernen. Das heisst aber das Weib mit
einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so
zweifellose, unerlässliche Tugenden wie Wahrheit und Tapfer-
keit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt
höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend,
welche diese Unterscheidung und damit diesen ganzen Begriff
der Keuschheit als „Unschuld“ verwirft. Wahre Unschuld ist
nur die, die das Schuldlose auch schuldlos nimmt, um so
sicherer, je fremder ihr die wahre Schuld der Unkeuschheit ist.

Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen
Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich
Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vor-
bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann
aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen
wie sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestim-
mung. Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung.

Natorp, Sozialpädagogik. 8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0129" n="113"/>
Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn<lb/>
man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln lässt, so verfällt<lb/>
man dann leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder<lb/>
zwei so ehrliche Naturen wie Kierkegaard und Tolstoj), und<lb/>
gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestim-<lb/>
mung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für un-<lb/>
keusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche Tugend<lb/>
in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unver-<lb/>
letzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende<lb/>
wahrhafter und also sittlicher scheinen, sie ganz und gar als<lb/>
thörichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Natur-<lb/>
gebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns<lb/>
und Denkens zu erheben. Oder endlich, man versteht unter<lb/>
der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld, d. h. Un-<lb/>
wissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit<lb/>
über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, mit eigener Be-<lb/>
gehrungslosigkeit, also das Verharren im Kindesstande, auf<lb/>
den man selbst wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt,<lb/>
den man aber dem heranwachsenden, ja dem erwachsenen &#x2014;<lb/>
Weibe zumutet. Denn dem Manne kann man sie nicht wohl<lb/>
zumuten; er soll doch den Wirklichkeiten des Menschen-<lb/>
daseins ins Auge sehen lernen. Das heisst aber das Weib mit<lb/>
einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so<lb/>
zweifellose, unerlässliche Tugenden wie Wahrheit und Tapfer-<lb/>
keit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt<lb/>
höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend,<lb/>
welche diese Unterscheidung und damit diesen ganzen Begriff<lb/>
der Keuschheit als &#x201E;Unschuld&#x201C; verwirft. Wahre Unschuld ist<lb/>
nur die, die das Schuldlose auch schuldlos nimmt, um so<lb/>
sicherer, je fremder ihr die wahre Schuld der Unkeuschheit ist.</p><lb/>
            <p>Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen<lb/>
Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich<lb/>
Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vor-<lb/>
bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann<lb/>
aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen<lb/>
wie sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestim-<lb/>
mung. Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Natorp</hi>, Sozialpädagogik. 8</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0129] Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln lässt, so verfällt man dann leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder zwei so ehrliche Naturen wie Kierkegaard und Tolstoj), und gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestim- mung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für un- keusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche Tugend in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unver- letzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende wahrhafter und also sittlicher scheinen, sie ganz und gar als thörichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Natur- gebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns und Denkens zu erheben. Oder endlich, man versteht unter der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld, d. h. Un- wissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, mit eigener Be- gehrungslosigkeit, also das Verharren im Kindesstande, auf den man selbst wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt, den man aber dem heranwachsenden, ja dem erwachsenen — Weibe zumutet. Denn dem Manne kann man sie nicht wohl zumuten; er soll doch den Wirklichkeiten des Menschen- daseins ins Auge sehen lernen. Das heisst aber das Weib mit einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so zweifellose, unerlässliche Tugenden wie Wahrheit und Tapfer- keit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend, welche diese Unterscheidung und damit diesen ganzen Begriff der Keuschheit als „Unschuld“ verwirft. Wahre Unschuld ist nur die, die das Schuldlose auch schuldlos nimmt, um so sicherer, je fremder ihr die wahre Schuld der Unkeuschheit ist. Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vor- bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen wie sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestim- mung. Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung. Natorp, Sozialpädagogik. 8

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/129
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/129>, abgerufen am 27.04.2024.