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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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sein kann, und auch wirklich nicht danach fragt, was die
Folgen thatsächlich sein werden, sondern allenfalls, was, so
viel an ihm liegt
, sie sein würden.

Ebenso wenig verfängt hier die Berufung auf den gesell-
schaftlichen Instinkt als die Wurzel der Sittlichkeit. Die in-
stinktive Rücksicht auf die gesellschaftliche Ehre und Schande,
der in dunklen aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende
Einfluss des sozialen Lebens überhaupt ist gewiss sehr oft
das wirklich treibende Motiv bei Thaten, die man als solche
der höchsten Tapferkeit preist. Und doch macht das an sich
die That nicht zur sittlichen. Der gesellschaftliche Instinkt
kann an sich zum Verkehrten leiten so gut wie zum Rechten;
sich ihm urteilslos überlassen ist keineswegs sittlich, allen-
falls eine unverächtliche Stufe der Erziehung zum Sittlichen.
Als solche wollen wir auch den Ehrtrieb gerne gelten lassen.
Es giebt ohne Zweifel einen sittlichen Ehrtrieb. Unfraglich
sieht gerade der sittliche Mensch es für ehrlos an, im ge-
gebenen Falle sein Leben nicht zu wagen. Aber warum hält
er es dafür? Weil Andere es dafür halten? Welche Anderen?
Wahrscheinlich denkt die kleinste Zahl darüber so streng, wie
man im sittlichen Interesse denken soll. Gerade die Ehrvor-
stellungen der Menschen sind so himmelweit verschieden, dass
es vor allem dafür eines Kriteriums bedarf. Welche Ehre ist
denn nun für das sittliche Urteil maassgebend? Natürlich nur
die sittliche. Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit,
nicht Sittlichkeit auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist.

Es verhält sich mit diesen abgeleiteteren Begriffen nicht
anders als mit den allgemeinen der Lust, der Glückseligkeit,
oder des Nutzens. Immer wird sich fragen: welche Lust,
welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt
die an irgend einem anderweitigen, aussersittlichen Maasse ge-
messene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich,
oder bestimmt vielmehr das eigene Gesetz der Sittlichkeit, was
wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Unter dem
Gesetz der Lust und Unlust steht jede Handlung, jede
Willensrichtung; der Edle findet am Edlen seine Lust, der
Unedle am Unedlen. Aber eben darum bedarf es eines andern

sein kann, und auch wirklich nicht danach fragt, was die
Folgen thatsächlich sein werden, sondern allenfalls, was, so
viel an ihm liegt
, sie sein würden.

Ebenso wenig verfängt hier die Berufung auf den gesell-
schaftlichen Instinkt als die Wurzel der Sittlichkeit. Die in-
stinktive Rücksicht auf die gesellschaftliche Ehre und Schande,
der in dunklen aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende
Einfluss des sozialen Lebens überhaupt ist gewiss sehr oft
das wirklich treibende Motiv bei Thaten, die man als solche
der höchsten Tapferkeit preist. Und doch macht das an sich
die That nicht zur sittlichen. Der gesellschaftliche Instinkt
kann an sich zum Verkehrten leiten so gut wie zum Rechten;
sich ihm urteilslos überlassen ist keineswegs sittlich, allen-
falls eine unverächtliche Stufe der Erziehung zum Sittlichen.
Als solche wollen wir auch den Ehrtrieb gerne gelten lassen.
Es giebt ohne Zweifel einen sittlichen Ehrtrieb. Unfraglich
sieht gerade der sittliche Mensch es für ehrlos an, im ge-
gebenen Falle sein Leben nicht zu wagen. Aber warum hält
er es dafür? Weil Andere es dafür halten? Welche Anderen?
Wahrscheinlich denkt die kleinste Zahl darüber so streng, wie
man im sittlichen Interesse denken soll. Gerade die Ehrvor-
stellungen der Menschen sind so himmelweit verschieden, dass
es vor allem dafür eines Kriteriums bedarf. Welche Ehre ist
denn nun für das sittliche Urteil maassgebend? Natürlich nur
die sittliche. Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit,
nicht Sittlichkeit auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist.

Es verhält sich mit diesen abgeleiteteren Begriffen nicht
anders als mit den allgemeinen der Lust, der Glückseligkeit,
oder des Nutzens. Immer wird sich fragen: welche Lust,
welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt
die an irgend einem anderweitigen, aussersittlichen Maasse ge-
messene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich,
oder bestimmt vielmehr das eigene Gesetz der Sittlichkeit, was
wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Unter dem
Gesetz der Lust und Unlust steht jede Handlung, jede
Willensrichtung; der Edle findet am Edlen seine Lust, der
Unedle am Unedlen. Aber eben darum bedarf es eines andern

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[105/0121] sein kann, und auch wirklich nicht danach fragt, was die Folgen thatsächlich sein werden, sondern allenfalls, was, so viel an ihm liegt, sie sein würden. Ebenso wenig verfängt hier die Berufung auf den gesell- schaftlichen Instinkt als die Wurzel der Sittlichkeit. Die in- stinktive Rücksicht auf die gesellschaftliche Ehre und Schande, der in dunklen aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende Einfluss des sozialen Lebens überhaupt ist gewiss sehr oft das wirklich treibende Motiv bei Thaten, die man als solche der höchsten Tapferkeit preist. Und doch macht das an sich die That nicht zur sittlichen. Der gesellschaftliche Instinkt kann an sich zum Verkehrten leiten so gut wie zum Rechten; sich ihm urteilslos überlassen ist keineswegs sittlich, allen- falls eine unverächtliche Stufe der Erziehung zum Sittlichen. Als solche wollen wir auch den Ehrtrieb gerne gelten lassen. Es giebt ohne Zweifel einen sittlichen Ehrtrieb. Unfraglich sieht gerade der sittliche Mensch es für ehrlos an, im ge- gebenen Falle sein Leben nicht zu wagen. Aber warum hält er es dafür? Weil Andere es dafür halten? Welche Anderen? Wahrscheinlich denkt die kleinste Zahl darüber so streng, wie man im sittlichen Interesse denken soll. Gerade die Ehrvor- stellungen der Menschen sind so himmelweit verschieden, dass es vor allem dafür eines Kriteriums bedarf. Welche Ehre ist denn nun für das sittliche Urteil maassgebend? Natürlich nur die sittliche. Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit, nicht Sittlichkeit auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist. Es verhält sich mit diesen abgeleiteteren Begriffen nicht anders als mit den allgemeinen der Lust, der Glückseligkeit, oder des Nutzens. Immer wird sich fragen: welche Lust, welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt die an irgend einem anderweitigen, aussersittlichen Maasse ge- messene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich, oder bestimmt vielmehr das eigene Gesetz der Sittlichkeit, was wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Unter dem Gesetz der Lust und Unlust steht jede Handlung, jede Willensrichtung; der Edle findet am Edlen seine Lust, der Unedle am Unedlen. Aber eben darum bedarf es eines andern

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/121>, abgerufen am 28.04.2024.