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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Das ist aber offenbar der eigentliche Sinn der antiken
Tugend der andreia oder virtus, wörtlich Mannhaftigkeit.
Das muss man freilich prägnant verstehen, schiene es doch
sonst das Geschlecht zu beleidigen, das sich oft genug als das
sittlich stärkere erweist. "Sei wie ein Mann sein soll", das
will sagen: "Habe einen Willen!" Die gewöhnliche deutsche
Wiedergabe durch Tapferkeit erinnert vielleicht etwas zu
einseitig an die Behauptung im Streit, die doch nicht bedingungs-
los sittlich ist. An sich aber ist das darin liegende Moment
der Gegensätzlichkeit, des Kampfes wohl von Bedeutung, nur
dass es sich auch handelt um die Besiegung der inneren
Schwierigkeiten der Sache, vor allem der Schwierigkeiten, die
sich in der eigenen Seele, von seiten des Trieblebens zunächst,
gegen die kraftvolle Verwirklichung des erkannten Guten er-
heben. Man spricht doch von tapferer Arbeit, tapferem Forschen,
von Tapferkeit im Ertragen von Leid und Widerwärtigkeit,
Tapferkeit der Selbstüberwindung.

Aber das alles unterschiede noch nicht die sittliche That-
kraft von der Thatkraft überhaupt. Wie die Einsicht, kann
nämlich auch die Thatkraft an sich sowohl dem Schlechten
wie dem Guten dienen; beide sind an sich indifferent, ohne
Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt
nur von der Einsicht, die bloss zum gegebenen Zweck die
tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die
Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck
nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein
soll (und so ins Unendliche), notwendig auf den unbedingten
Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der
Thatkraft des Willens: sofern sie bloss für einen beliebigen
schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des
Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut
sein; als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf ein un-
verrückbares Ziel den ganzen Willen konzentriert und so
seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie
notwendig zum Sittlichen.

Dadurch vollendet sich also erst der Begriff der sittlichen
Tapferkeit: als des unbedingten Einsatzes aller Kräfte für

Das ist aber offenbar der eigentliche Sinn der antiken
Tugend der ἀνδϱεία oder virtus, wörtlich Mannhaftigkeit.
Das muss man freilich prägnant verstehen, schiene es doch
sonst das Geschlecht zu beleidigen, das sich oft genug als das
sittlich stärkere erweist. „Sei wie ein Mann sein soll“, das
will sagen: „Habe einen Willen!“ Die gewöhnliche deutsche
Wiedergabe durch Tapferkeit erinnert vielleicht etwas zu
einseitig an die Behauptung im Streit, die doch nicht bedingungs-
los sittlich ist. An sich aber ist das darin liegende Moment
der Gegensätzlichkeit, des Kampfes wohl von Bedeutung, nur
dass es sich auch handelt um die Besiegung der inneren
Schwierigkeiten der Sache, vor allem der Schwierigkeiten, die
sich in der eigenen Seele, von seiten des Trieblebens zunächst,
gegen die kraftvolle Verwirklichung des erkannten Guten er-
heben. Man spricht doch von tapferer Arbeit, tapferem Forschen,
von Tapferkeit im Ertragen von Leid und Widerwärtigkeit,
Tapferkeit der Selbstüberwindung.

Aber das alles unterschiede noch nicht die sittliche That-
kraft von der Thatkraft überhaupt. Wie die Einsicht, kann
nämlich auch die Thatkraft an sich sowohl dem Schlechten
wie dem Guten dienen; beide sind an sich indifferent, ohne
Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt
nur von der Einsicht, die bloss zum gegebenen Zweck die
tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die
Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck
nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein
soll (und so ins Unendliche), notwendig auf den unbedingten
Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der
Thatkraft des Willens: sofern sie bloss für einen beliebigen
schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des
Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut
sein; als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf ein un-
verrückbares Ziel den ganzen Willen konzentriert und so
seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie
notwendig zum Sittlichen.

Dadurch vollendet sich also erst der Begriff der sittlichen
Tapferkeit: als des unbedingten Einsatzes aller Kräfte für

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[102/0118] Das ist aber offenbar der eigentliche Sinn der antiken Tugend der ἀνδϱεία oder virtus, wörtlich Mannhaftigkeit. Das muss man freilich prägnant verstehen, schiene es doch sonst das Geschlecht zu beleidigen, das sich oft genug als das sittlich stärkere erweist. „Sei wie ein Mann sein soll“, das will sagen: „Habe einen Willen!“ Die gewöhnliche deutsche Wiedergabe durch Tapferkeit erinnert vielleicht etwas zu einseitig an die Behauptung im Streit, die doch nicht bedingungs- los sittlich ist. An sich aber ist das darin liegende Moment der Gegensätzlichkeit, des Kampfes wohl von Bedeutung, nur dass es sich auch handelt um die Besiegung der inneren Schwierigkeiten der Sache, vor allem der Schwierigkeiten, die sich in der eigenen Seele, von seiten des Trieblebens zunächst, gegen die kraftvolle Verwirklichung des erkannten Guten er- heben. Man spricht doch von tapferer Arbeit, tapferem Forschen, von Tapferkeit im Ertragen von Leid und Widerwärtigkeit, Tapferkeit der Selbstüberwindung. Aber das alles unterschiede noch nicht die sittliche That- kraft von der Thatkraft überhaupt. Wie die Einsicht, kann nämlich auch die Thatkraft an sich sowohl dem Schlechten wie dem Guten dienen; beide sind an sich indifferent, ohne Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt nur von der Einsicht, die bloss zum gegebenen Zweck die tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein soll (und so ins Unendliche), notwendig auf den unbedingten Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der Thatkraft des Willens: sofern sie bloss für einen beliebigen schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut sein; als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf ein un- verrückbares Ziel den ganzen Willen konzentriert und so seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie notwendig zum Sittlichen. Dadurch vollendet sich also erst der Begriff der sittlichen Tapferkeit: als des unbedingten Einsatzes aller Kräfte für

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/118>, abgerufen am 23.11.2024.