beides sich in den Folgen auf den Andern miterstreckt, nicht geringer dadurch, dass sie sich in den Tiefen des eignen Be- wusstseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht hinzu: die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit Unwahr- heit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei zweierlei in Frage, erstens die Aufrichtigkeit, die direkt die Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freundschaft und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit gegen jedermann, in allen öffentlichen und gemeinmenschlichen Be- ziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Thätigkeit, sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft be- troffen, er gehört daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend; im andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst und kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur ausserdem auch ins Spiel.
Um von den manchen hierher gehörenden Fragen wenig- stens eine auch im besonderen zu behandeln: wie weit reicht wohl die Verpflichtung an öffentlichen Zuständen öffentlich Kritik zu üben? Es ist wahr, dass Feigheit tausend Gründe findet, die Grenzen dieser Verpflichtung möglichst eng zu ziehen; aber es giebt allerdings Grenzen. Wer schweren Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte und Autoritäten geniessen, unter eigener Gefahr wagt, hat im allgemeinen das günstige Vorurteil für sich, rein der Wahr- heit zu dienen, wenigstens ernster, wohlgeprüfter Ueber- zeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat Eitelkeit des Besserwissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja die Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine Beste. Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in den Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiss nicht ohne die sorglichste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist man aber seiner Sache gewiss, glaubt man auch die Folgen, die es haben kann, als im ganzen heilsame zu erkennen, handelt es sich zudem um Fragen von einschneidender Be-
beides sich in den Folgen auf den Andern miterstreckt, nicht geringer dadurch, dass sie sich in den Tiefen des eignen Be- wusstseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht hinzu: die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit Unwahr- heit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei zweierlei in Frage, erstens die Aufrichtigkeit, die direkt die Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freundschaft und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit gegen jedermann, in allen öffentlichen und gemeinmenschlichen Be- ziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Thätigkeit, sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft be- troffen, er gehört daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend; im andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst und kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur ausserdem auch ins Spiel.
Um von den manchen hierher gehörenden Fragen wenig- stens eine auch im besonderen zu behandeln: wie weit reicht wohl die Verpflichtung an öffentlichen Zuständen öffentlich Kritik zu üben? Es ist wahr, dass Feigheit tausend Gründe findet, die Grenzen dieser Verpflichtung möglichst eng zu ziehen; aber es giebt allerdings Grenzen. Wer schweren Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte und Autoritäten geniessen, unter eigener Gefahr wagt, hat im allgemeinen das günstige Vorurteil für sich, rein der Wahr- heit zu dienen, wenigstens ernster, wohlgeprüfter Ueber- zeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat Eitelkeit des Besserwissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja die Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine Beste. Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in den Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiss nicht ohne die sorglichste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist man aber seiner Sache gewiss, glaubt man auch die Folgen, die es haben kann, als im ganzen heilsame zu erkennen, handelt es sich zudem um Fragen von einschneidender Be-
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beides sich in den Folgen auf den Andern miterstreckt, nicht
geringer dadurch, dass sie sich in den Tiefen des eignen Be-
wusstseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht hinzu:
die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit Unwahr-
heit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei
zweierlei in Frage, erstens die Aufrichtigkeit, die direkt die
Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freundschaft
und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit gegen
jedermann, in allen öffentlichen und gemeinmenschlichen Be-
ziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Thätigkeit,
sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und
den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren
Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft be-
troffen, er gehört daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend;
im andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst
und kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur ausserdem auch
ins Spiel.
Um von den manchen hierher gehörenden Fragen wenig-
stens eine auch im besonderen zu behandeln: wie weit reicht
wohl die Verpflichtung an öffentlichen Zuständen öffentlich
Kritik zu üben? Es ist wahr, dass Feigheit tausend Gründe
findet, die Grenzen dieser Verpflichtung möglichst eng zu
ziehen; aber es giebt allerdings Grenzen. Wer schweren
Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte
und Autoritäten geniessen, unter eigener Gefahr wagt, hat im
allgemeinen das günstige Vorurteil für sich, rein der Wahr-
heit zu dienen, wenigstens ernster, wohlgeprüfter Ueber-
zeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat Eitelkeit des
Besserwissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja
die Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der
lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine
Beste. Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in den
Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiss nicht ohne
die sorglichste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist
man aber seiner Sache gewiss, glaubt man auch die Folgen,
die es haben kann, als im ganzen heilsame zu erkennen,
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/115>, abgerufen am 24.11.2024.
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