Hieraus wird besonders klar, dass der Grund der Tugend der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äusseren, gesell- schaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen und gleichsam reflektiert; als schäme man sich nur deshalb, sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man erlebt, den äusseren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man sich, wenn er wüsste, was in uns vorgeht, verkriechen müsste. Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge, dass schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört, auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur ein begrenztes an der äusseren. Sie kann mit viel Lug und Trug bestehen, sie stirbt nicht sogleich daran. Eine fest- gegründete äussere Redlichkeit würde zwar dazu mithelfen, die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen, während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar die ganze äussere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert, vollends schwer gedeiht. Aber darum liegt doch der schliessliche Grund dieser Tugend im Selbstbewusstsein des Individuums, nicht an sich in äusseren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher ist innere Wahrhaftigkeit unbedingte, ausnahmslose Pflicht, während es, auch wenn man von der kasuistischen Frage der Erlaubtheit der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei Rück- sichten giebt, welche die Pflicht, die erkannte Wahrheit auch gegen Andere zu äussern, mannigfach einschränken. Gewiss ist Wahrheit das Heiligste, aber vielleicht begründet es eben ihre Heiligkeit, dass nicht jeder Mund rein genug ist sie auszusprechen, noch jedes Ohr sie zu vernehmen, auch nicht jeder Ort und jede Stunde sich gleich gut für sie schicken will. Eine unbedingte und allgemeine Verpflichtung, sein Herz auf der Zunge zu tragen, besteht sicherlich nicht.
Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend betrifft, so muss er wohl von gleicher Ausdehung sein mit dem der
Hieraus wird besonders klar, dass der Grund der Tugend der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äusseren, gesell- schaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen und gleichsam reflektiert; als schäme man sich nur deshalb, sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man erlebt, den äusseren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man sich, wenn er wüsste, was in uns vorgeht, verkriechen müsste. Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge, dass schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört, auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur ein begrenztes an der äusseren. Sie kann mit viel Lug und Trug bestehen, sie stirbt nicht sogleich daran. Eine fest- gegründete äussere Redlichkeit würde zwar dazu mithelfen, die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen, während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar die ganze äussere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert, vollends schwer gedeiht. Aber darum liegt doch der schliessliche Grund dieser Tugend im Selbstbewusstsein des Individuums, nicht an sich in äusseren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher ist innere Wahrhaftigkeit unbedingte, ausnahmslose Pflicht, während es, auch wenn man von der kasuistischen Frage der Erlaubtheit der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei Rück- sichten giebt, welche die Pflicht, die erkannte Wahrheit auch gegen Andere zu äussern, mannigfach einschränken. Gewiss ist Wahrheit das Heiligste, aber vielleicht begründet es eben ihre Heiligkeit, dass nicht jeder Mund rein genug ist sie auszusprechen, noch jedes Ohr sie zu vernehmen, auch nicht jeder Ort und jede Stunde sich gleich gut für sie schicken will. Eine unbedingte und allgemeine Verpflichtung, sein Herz auf der Zunge zu tragen, besteht sicherlich nicht.
Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend betrifft, so muss er wohl von gleicher Ausdehung sein mit dem der
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Hieraus wird besonders klar, dass der Grund der Tugend
der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äusseren, gesell-
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werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen
und gleichsam reflektiert; als schäme man sich nur deshalb,
sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen
Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man
erlebt, den äusseren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man
sich, wenn er wüsste, was in uns vorgeht, verkriechen müsste.
Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge,
dass schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört,
auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten
Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein
Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur
ein begrenztes an der äusseren. Sie kann mit viel Lug und
Trug bestehen, sie stirbt nicht sogleich daran. Eine fest-
gegründete äussere Redlichkeit würde zwar dazu mithelfen,
die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen,
während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar
die ganze äussere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf
Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert,
vollends schwer gedeiht. Aber darum liegt doch der schliessliche
Grund dieser Tugend im Selbstbewusstsein des Individuums,
nicht an sich in äusseren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher
ist innere Wahrhaftigkeit unbedingte, ausnahmslose Pflicht,
während es, auch wenn man von der kasuistischen Frage der
Erlaubtheit der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei Rück-
sichten giebt, welche die Pflicht, die erkannte Wahrheit auch
gegen Andere zu äussern, mannigfach einschränken. Gewiss
ist Wahrheit das Heiligste, aber vielleicht begründet es eben
ihre Heiligkeit, dass nicht jeder Mund rein genug ist sie
auszusprechen, noch jedes Ohr sie zu vernehmen, auch nicht
jeder Ort und jede Stunde sich gleich gut für sie schicken
will. Eine unbedingte und allgemeine Verpflichtung, sein Herz
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Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend betrifft,
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/112>, abgerufen am 23.11.2024.
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