die Spitze stellt. Dagegen sagt z. B. das sonst vortreffliche Wort "Gesinnung" (ebenso wie "Besinnung") gar nichts darüber, welche praktische Sinnesrichtung denn, mit Ausschluss jeder andern, die rechte sei. Auch nimmt dies Wort allzu leicht den schwächlichen Sinn eines blossen Gutmeinens an, das mit viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich wäre; wogegen die Forderung: Sei wahr! eine unerbittliche Grenz- scheide zwischen der sittlich rechten und verkehrten Gesinnung setzt. Zugleich liegt der Hinweis auf das Thun vernehmlich genug darin, wenn doch vom ganzen Menschen gefordert wird, dass er sich gleichsam zum Ausdruck der Wahrheit mache.
Dem kommt vielleicht etwas näher das Wort Gewissen, das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die Notwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: bin ich auch auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt. Und da das Wort zugleich eben das Moment des Wissens, des Bewusstseins um das, was man thut und was man soll, der conscientia sui betont, so könnte es den persönlichen Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen, als das Wort Wahrheit, das vielleicht zu ausschliesslich objektiv scheint, und in der That erst durch die Verbindung mit einer Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend indirekt erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch ist das Wort Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung auf das reine praktische Selbstbewusstsein fast verlustig ge- gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung unleugbar einen Beischmack von Heteronomie erhalten, während bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, die Auto- nomie des Sittlichen aufs strengste gewahrt bleiben muss. "Gewissen" besagt nach vorherrschender Auffassung unstreitig etwas wie Autorität, wiewohl innere, nicht äussere. Diese kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes gegen die Eltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste Form des Bewusstseins, nicht reine Bewusstheit. In päda- gogischer Hinsicht ist nun zwar das Gewissen der Liebe sicher
die Spitze stellt. Dagegen sagt z. B. das sonst vortreffliche Wort „Gesinnung“ (ebenso wie „Besinnung“) gar nichts darüber, welche praktische Sinnesrichtung denn, mit Ausschluss jeder andern, die rechte sei. Auch nimmt dies Wort allzu leicht den schwächlichen Sinn eines blossen Gutmeinens an, das mit viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich wäre; wogegen die Forderung: Sei wahr! eine unerbittliche Grenz- scheide zwischen der sittlich rechten und verkehrten Gesinnung setzt. Zugleich liegt der Hinweis auf das Thun vernehmlich genug darin, wenn doch vom ganzen Menschen gefordert wird, dass er sich gleichsam zum Ausdruck der Wahrheit mache.
Dem kommt vielleicht etwas näher das Wort Gewissen, das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die Notwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: bin ich auch auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt. Und da das Wort zugleich eben das Moment des Wissens, des Bewusstseins um das, was man thut und was man soll, der conscientia sui betont, so könnte es den persönlichen Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen, als das Wort Wahrheit, das vielleicht zu ausschliesslich objektiv scheint, und in der That erst durch die Verbindung mit einer Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend indirekt erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch ist das Wort Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung auf das reine praktische Selbstbewusstsein fast verlustig ge- gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung unleugbar einen Beischmack von Heteronomie erhalten, während bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, die Auto- nomie des Sittlichen aufs strengste gewahrt bleiben muss. „Gewissen“ besagt nach vorherrschender Auffassung unstreitig etwas wie Autorität, wiewohl innere, nicht äussere. Diese kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes gegen die Eltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste Form des Bewusstseins, nicht reine Bewusstheit. In päda- gogischer Hinsicht ist nun zwar das Gewissen der Liebe sicher
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den schwächlichen Sinn eines blossen Gutmeinens an, das mit
viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich wäre;
wogegen die Forderung: Sei wahr! eine unerbittliche Grenz-
scheide zwischen der sittlich rechten und verkehrten Gesinnung
setzt. Zugleich liegt der Hinweis auf das Thun vernehmlich
genug darin, wenn doch vom ganzen Menschen gefordert
wird, dass er sich gleichsam zum Ausdruck der Wahrheit mache.
Dem kommt vielleicht etwas näher das Wort Gewissen,
das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die
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auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt.
Und da das Wort zugleich eben das Moment des Wissens,
des Bewusstseins um das, was man thut und was man soll,
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Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen,
als das Wort Wahrheit, das vielleicht zu ausschliesslich objektiv
scheint, und in der That erst durch die Verbindung mit einer
Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend
indirekt erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch
ist das Wort Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung
auf das reine praktische Selbstbewusstsein fast verlustig ge-
gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung
unleugbar einen Beischmack von Heteronomie erhalten, während
bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, die Auto-
nomie des Sittlichen aufs strengste gewahrt bleiben muss.
„Gewissen“ besagt nach vorherrschender Auffassung unstreitig
etwas wie Autorität, wiewohl innere, nicht äussere. Diese
kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes
gegen die Eltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen
gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie
ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/109>, abgerufen am 23.11.2024.
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