der Gang der Deduktion ist vom Abstrakteren zum Konkreteren. Die Grundverhältnisse des Sittlichen, an sich dieselben für Individuum und Gemeinschaft, werden sich doch am Indivi- duum leichter erkennen lassen. Sie ergeben sich, wie wir erwarten müssen, durch die Spezifikation der in sich einen sittlichen Aufgabe gemäss ihrer Beziehung auf die drei Grund- faktoren der Aktivität, Trieb, Wille und Vernunft; von diesen aber ist unmittelbar klar, was sie beim Individuum, nicht ebenso, was sie in der Gemeinschaft besagen. Zugleich wird eben damit erst der Grund gelegt für die Ableitung des Sitt- lichen auch in seiner sozialen Gestalt. Denn dasselbe, was der Wille auf seinen drei wesentlichen Stufen für den Einzelnen bedeutet, muss er auch für die Gemeinschaft bedeuten; man hat nur die Wechselbeziehungen der Einzelnen in der Gemein- schaft hinsichtlich eben dieser drei Stufen der Aktivität zu- gleich in Betracht zu ziehen. Das ist im wesentlichen der Weg, den Plato eingeschlagen hat. Schon er gelangte so zu einer genau parallelen Bestimmung des konkret Sittlichen für Individuum und Gemeinschaft, die, wie verbesserlich auch im einzelnen, doch dem Prinzip und methodischen Grund- gedanken nach vorbildlich bleibt.
Auf seiten des Individuums ergiebt sich auf diesem Wege ein System von Grundtugenden. Unter Tugend überhaupt verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums, unter Tugenden deren einzelne Seiten oder Richtungen, unter Grund- oder Kardinaltugenden die ursprünglich zu unterscheidenden Seiten, die aus irgend einer obersten Einteilung des Begriffs der in- dividuellen Tugend sich ergeben müssen. Zum obersten Ein- teilungsgrund aber dienen uns die wesentlichen Stufen der Aktivität überhaupt; denn Tugend ist nichts Andres als die rechte, ihrem eigenen Gesetz gemässe Beschaffenheit mensch- licher Thätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt hat, dass die ihm schon überlieferten Hauptnamen von Tugenden wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maass einen solchen Einteilungs- grund stillschweigend voraussetzen, nur freilich ohne Bewusst- sein und daher ohne sichere Abgrenzung der Begriffe. Da- durch war seiner Untersuchung in Hinsicht der individuellen
der Gang der Deduktion ist vom Abstrakteren zum Konkreteren. Die Grundverhältnisse des Sittlichen, an sich dieselben für Individuum und Gemeinschaft, werden sich doch am Indivi- duum leichter erkennen lassen. Sie ergeben sich, wie wir erwarten müssen, durch die Spezifikation der in sich einen sittlichen Aufgabe gemäss ihrer Beziehung auf die drei Grund- faktoren der Aktivität, Trieb, Wille und Vernunft; von diesen aber ist unmittelbar klar, was sie beim Individuum, nicht ebenso, was sie in der Gemeinschaft besagen. Zugleich wird eben damit erst der Grund gelegt für die Ableitung des Sitt- lichen auch in seiner sozialen Gestalt. Denn dasselbe, was der Wille auf seinen drei wesentlichen Stufen für den Einzelnen bedeutet, muss er auch für die Gemeinschaft bedeuten; man hat nur die Wechselbeziehungen der Einzelnen in der Gemein- schaft hinsichtlich eben dieser drei Stufen der Aktivität zu- gleich in Betracht zu ziehen. Das ist im wesentlichen der Weg, den Plato eingeschlagen hat. Schon er gelangte so zu einer genau parallelen Bestimmung des konkret Sittlichen für Individuum und Gemeinschaft, die, wie verbesserlich auch im einzelnen, doch dem Prinzip und methodischen Grund- gedanken nach vorbildlich bleibt.
Auf seiten des Individuums ergiebt sich auf diesem Wege ein System von Grundtugenden. Unter Tugend überhaupt verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums, unter Tugenden deren einzelne Seiten oder Richtungen, unter Grund- oder Kardinaltugenden die ursprünglich zu unterscheidenden Seiten, die aus irgend einer obersten Einteilung des Begriffs der in- dividuellen Tugend sich ergeben müssen. Zum obersten Ein- teilungsgrund aber dienen uns die wesentlichen Stufen der Aktivität überhaupt; denn Tugend ist nichts Andres als die rechte, ihrem eigenen Gesetz gemässe Beschaffenheit mensch- licher Thätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt hat, dass die ihm schon überlieferten Hauptnamen von Tugenden wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maass einen solchen Einteilungs- grund stillschweigend voraussetzen, nur freilich ohne Bewusst- sein und daher ohne sichere Abgrenzung der Begriffe. Da- durch war seiner Untersuchung in Hinsicht der individuellen
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der Gang der Deduktion ist vom Abstrakteren zum Konkreteren.
Die Grundverhältnisse des Sittlichen, an sich dieselben für
Individuum und Gemeinschaft, werden sich doch am Indivi-
duum leichter erkennen lassen. Sie ergeben sich, wie wir
erwarten müssen, durch die Spezifikation der in sich einen
sittlichen Aufgabe gemäss ihrer Beziehung auf die drei Grund-
faktoren der Aktivität, Trieb, Wille und Vernunft; von diesen
aber ist unmittelbar klar, was sie beim Individuum, nicht
ebenso, was sie in der Gemeinschaft besagen. Zugleich wird
eben damit erst der Grund gelegt für die Ableitung des Sitt-
lichen auch in seiner sozialen Gestalt. Denn dasselbe, was
der Wille auf seinen drei wesentlichen Stufen für den Einzelnen
bedeutet, muss er auch für die Gemeinschaft bedeuten; man
hat nur die Wechselbeziehungen der Einzelnen in der Gemein-
schaft hinsichtlich eben dieser drei Stufen der Aktivität zu-
gleich in Betracht zu ziehen. Das ist im wesentlichen der
Weg, den Plato eingeschlagen hat. Schon er gelangte so
zu einer genau parallelen Bestimmung des konkret Sittlichen
für Individuum und Gemeinschaft, die, wie verbesserlich auch
im einzelnen, doch dem Prinzip und methodischen Grund-
gedanken nach vorbildlich bleibt.
Auf seiten des Individuums ergiebt sich auf diesem Wege
ein System von Grundtugenden. Unter Tugend überhaupt
verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums, unter Tugenden
deren einzelne Seiten oder Richtungen, unter Grund- oder
Kardinaltugenden die ursprünglich zu unterscheidenden Seiten,
die aus irgend einer obersten Einteilung des Begriffs der in-
dividuellen Tugend sich ergeben müssen. Zum obersten Ein-
teilungsgrund aber dienen uns die wesentlichen Stufen der
Aktivität überhaupt; denn Tugend ist nichts Andres als die
rechte, ihrem eigenen Gesetz gemässe Beschaffenheit mensch-
licher Thätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt hat,
dass die ihm schon überlieferten Hauptnamen von Tugenden
wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maass einen solchen Einteilungs-
grund stillschweigend voraussetzen, nur freilich ohne Bewusst-
sein und daher ohne sichere Abgrenzung der Begriffe. Da-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/102>, abgerufen am 22.11.2024.
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