Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

mich, die heroischen Tugenden und der
Königsmord würden aus einem Ey gebrü-
tet. Durch sie hebt sich die Schnellkraft
des Geistes; alle Fasern des Hirns werden
gespannt wie schlaffe Seil, wenn sie mit
Wasser genetzt werden; sie treibt das Herz-
blut rascher durch die Aorta, sprüht Feuer-
funken aus den Augen; erfüllt die Brust
mit allbelebender Wärme, die ich mit der
Brutkraft vergleiche, welche die Küchlein
im Ey belebt. Ohne die wohlthätige Ein-
wirkung der Schwärmerey, würde die Welt
vier Bänd' physiognomischer Fragmente,
ein physiognomisches Cabinet, ein Lustspiel,
einen Kalendertraktat, und meine Reisen
entbehren müssen, welches in der Reihe
der Wissenschaften kein geringerer Uebelstand
seyn würde, als in einem wohlgereiheten
Gebiß ein fehlender Zahn. Sind deshalb
in meinen Augen die Leut', die auf nichts
peiter als schlichten geraden Menschen-

ver-
H 4

mich, die heroiſchen Tugenden und der
Koͤnigsmord wuͤrden aus einem Ey gebruͤ-
tet. Durch ſie hebt ſich die Schnellkraft
des Geiſtes; alle Faſern des Hirns werden
geſpannt wie ſchlaffe Seil, wenn ſie mit
Waſſer genetzt werden; ſie treibt das Herz-
blut raſcher durch die Aorta, ſpruͤht Feuer-
funken aus den Augen; erfuͤllt die Bruſt
mit allbelebender Waͤrme, die ich mit der
Brutkraft vergleiche, welche die Kuͤchlein
im Ey belebt. Ohne die wohlthaͤtige Ein-
wirkung der Schwaͤrmerey, wuͤrde die Welt
vier Baͤnd’ phyſiognomiſcher Fragmente,
ein phyſiognomiſches Cabinet, ein Luſtſpiel,
einen Kalendertraktat, und meine Reiſen
entbehren muͤſſen, welches in der Reihe
der Wiſſenſchaften kein geringerer Uebelſtand
ſeyn wuͤrde, als in einem wohlgereiheten
Gebiß ein fehlender Zahn. Sind deshalb
in meinen Augen die Leut’, die auf nichts
peiter als ſchlichten geraden Menſchen-

ver-
H 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0119" n="119"/>
mich, die heroi&#x017F;chen Tugenden und der<lb/>
Ko&#x0364;nigsmord wu&#x0364;rden aus einem Ey gebru&#x0364;-<lb/>
tet. Durch &#x017F;ie hebt &#x017F;ich die Schnellkraft<lb/>
des Gei&#x017F;tes; alle Fa&#x017F;ern des Hirns werden<lb/>
ge&#x017F;pannt wie &#x017F;chlaffe Seil, wenn &#x017F;ie mit<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er genetzt werden; &#x017F;ie treibt das Herz-<lb/>
blut ra&#x017F;cher durch die Aorta, &#x017F;pru&#x0364;ht Feuer-<lb/>
funken aus den Augen; erfu&#x0364;llt die Bru&#x017F;t<lb/>
mit allbelebender Wa&#x0364;rme, die ich mit der<lb/>
Brutkraft vergleiche, welche die Ku&#x0364;chlein<lb/>
im Ey belebt. Ohne die wohltha&#x0364;tige Ein-<lb/>
wirkung der Schwa&#x0364;rmerey, wu&#x0364;rde die Welt<lb/>
vier Ba&#x0364;nd&#x2019; phy&#x017F;iognomi&#x017F;cher Fragmente,<lb/>
ein phy&#x017F;iognomi&#x017F;ches Cabinet, ein Lu&#x017F;t&#x017F;piel,<lb/>
einen Kalendertraktat, und meine Rei&#x017F;en<lb/>
entbehren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, welches in der Reihe<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften kein geringerer Uebel&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;eyn wu&#x0364;rde, als in einem wohlgereiheten<lb/>
Gebiß ein fehlender Zahn. Sind deshalb<lb/>
in meinen Augen die Leut&#x2019;, die auf nichts<lb/>
peiter als &#x017F;chlichten geraden Men&#x017F;chen-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ver-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0119] mich, die heroiſchen Tugenden und der Koͤnigsmord wuͤrden aus einem Ey gebruͤ- tet. Durch ſie hebt ſich die Schnellkraft des Geiſtes; alle Faſern des Hirns werden geſpannt wie ſchlaffe Seil, wenn ſie mit Waſſer genetzt werden; ſie treibt das Herz- blut raſcher durch die Aorta, ſpruͤht Feuer- funken aus den Augen; erfuͤllt die Bruſt mit allbelebender Waͤrme, die ich mit der Brutkraft vergleiche, welche die Kuͤchlein im Ey belebt. Ohne die wohlthaͤtige Ein- wirkung der Schwaͤrmerey, wuͤrde die Welt vier Baͤnd’ phyſiognomiſcher Fragmente, ein phyſiognomiſches Cabinet, ein Luſtſpiel, einen Kalendertraktat, und meine Reiſen entbehren muͤſſen, welches in der Reihe der Wiſſenſchaften kein geringerer Uebelſtand ſeyn wuͤrde, als in einem wohlgereiheten Gebiß ein fehlender Zahn. Sind deshalb in meinen Augen die Leut’, die auf nichts peiter als ſchlichten geraden Menſchen- ver- H 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/119
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/119>, abgerufen am 21.11.2024.