Cousine! Cousine! wie wird sich dieser Tiefblick in die physiognomischen Geheim- nisse mit ihrem hochschwebenden Adelsideal vertragen? Die ländlichen Dirnen, in de- nen Sie vergröberte Organisation der Menschheit erblicken, sind vielleicht nur vergröberte Kopie ächter Familiengemählde.
Wagen Sie den Versuch einer physio- gnomischen Vergleichung; aber nach den bedeutsamen Zügen des Gesichts, und nicht nach dem Umriß Jhrer himmelanstrebenden Puderalpe, die den Gipfel in eine Blon- denwolke verbirgt. Eine alte Wahrheit oh- ne Kraft und Saft, das ist ohne Wirkung aufs Herz, sagt, alle Menschen gehören zu einer Familie. Wenn wir diese Wahrheit mit etwas physiognomischer Würze verse- tzen, so wird sie wieder anziehend. Durch Hülfe einer kleinen Spekulation sinden wir, daß wir nicht bis auf den Ahnherrn Noah hinauf steigen dürfen, den gemeinschaftli- chen Stammvater des in unsrer Dorfschaft blühenden Menschengeschlechtes aufzusuchen: wenn wir genau zusehen, sind wir mit un- sern Unterthanen so erbverbrüdert und erb- vereiniget, wie diese untereinander. Die Katzen gehören eben so wohl ins Löwenge-
schlecht,
Couſine! Couſine! wie wird ſich dieſer Tiefblick in die phyſiognomiſchen Geheim- niſſe mit ihrem hochſchwebenden Adelsideal vertragen? Die laͤndlichen Dirnen, in de- nen Sie vergroͤberte Organiſation der Menſchheit erblicken, ſind vielleicht nur vergroͤberte Kopie aͤchter Familiengemaͤhlde.
Wagen Sie den Verſuch einer phyſio- gnomiſchen Vergleichung; aber nach den bedeutſamen Zuͤgen des Geſichts, und nicht nach dem Umriß Jhrer himmelanſtrebenden Puderalpe, die den Gipfel in eine Blon- denwolke verbirgt. Eine alte Wahrheit oh- ne Kraft und Saft, das iſt ohne Wirkung aufs Herz, ſagt, alle Menſchen gehoͤren zu einer Familie. Wenn wir dieſe Wahrheit mit etwas phyſiognomiſcher Wuͤrze verſe- tzen, ſo wird ſie wieder anziehend. Durch Huͤlfe einer kleinen Spekulation ſinden wir, daß wir nicht bis auf den Ahnherrn Noah hinauf ſteigen duͤrfen, den gemeinſchaftli- chen Stammvater des in unſrer Dorfſchaft bluͤhenden Menſchengeſchlechtes aufzuſuchen: wenn wir genau zuſehen, ſind wir mit un- ſern Unterthanen ſo erbverbruͤdert und erb- vereiniget, wie dieſe untereinander. Die Katzen gehoͤren eben ſo wohl ins Loͤwenge-
ſchlecht,
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Couſine! Couſine! wie wird ſich dieſer
Tiefblick in die phyſiognomiſchen Geheim-
niſſe mit ihrem hochſchwebenden Adelsideal
vertragen? Die laͤndlichen Dirnen, in de-
nen Sie vergroͤberte Organiſation der
Menſchheit erblicken, ſind vielleicht nur
vergroͤberte Kopie aͤchter Familiengemaͤhlde.
Wagen Sie den Verſuch einer phyſio-
gnomiſchen Vergleichung; aber nach den
bedeutſamen Zuͤgen des Geſichts, und nicht
nach dem Umriß Jhrer himmelanſtrebenden
Puderalpe, die den Gipfel in eine Blon-
denwolke verbirgt. Eine alte Wahrheit oh-
ne Kraft und Saft, das iſt ohne Wirkung
aufs Herz, ſagt, alle Menſchen gehoͤren zu
einer Familie. Wenn wir dieſe Wahrheit
mit etwas phyſiognomiſcher Wuͤrze verſe-
tzen, ſo wird ſie wieder anziehend. Durch
Huͤlfe einer kleinen Spekulation ſinden wir,
daß wir nicht bis auf den Ahnherrn Noah
hinauf ſteigen duͤrfen, den gemeinſchaftli-
chen Stammvater des in unſrer Dorfſchaft
bluͤhenden Menſchengeſchlechtes aufzuſuchen:
wenn wir genau zuſehen, ſind wir mit un-
ſern Unterthanen ſo erbverbruͤdert und erb-
vereiniget, wie dieſe untereinander. Die
Katzen gehoͤren eben ſo wohl ins Loͤwenge-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/98>, abgerufen am 16.02.2025.
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