wird, ist Theorie der Gelehrsamkeit. Jch leugne nicht, daß das Gebiete der mensch- lichen Erkenntniß, bey der Betriebsamkeit des menschlichen Geistes, und der Leichtig- keit diese Kenntniß mitzutheilen, täglich er- weitert werde. Fragt man aber, ob diese neuen Erweiterungen nicht größten Theils ohne Nutzen sind; ob nicht unsere Zeitge- nossen, durch den Reiz der Neuheit geblen- det, die bereits entdekten, längst nüzlich befundenen Kenntnisse, und die Mittel zn Erlangung derselben verabsäumen, ob nicht den sich dünkenden Vielwissern und Ver- schlingern aller neuen Ausgebuhrten des menschlichen Witzes und der menschlichen Thorheit, das wiederfahren, was dem Hunde in der Fabel begegnete, der nach dem Schatten schnappte und die Realität für seinen Magen darüber aus dem Mau- le fallen ließ; ob man nicht mit den Wis- senschaften wie mit den Nüssen spiele, nur die äußere Schale betaste, und der Zähne schone sie aufzubeissen, um zu dem schmak- haften Kern derselben zu gelangen; ob also nicht wahre Gelehrsamkeit täglich mehr in Abnahme und Verfall gerathe: so muß ich nach meiner gewissenhaften Ueberzeu-
gung,
wird, iſt Theorie der Gelehrſamkeit. Jch leugne nicht, daß das Gebiete der menſch- lichen Erkenntniß, bey der Betriebſamkeit des menſchlichen Geiſtes, und der Leichtig- keit dieſe Kenntniß mitzutheilen, taͤglich er- weitert werde. Fragt man aber, ob dieſe neuen Erweiterungen nicht groͤßten Theils ohne Nutzen ſind; ob nicht unſere Zeitge- noſſen, durch den Reiz der Neuheit geblen- det, die bereits entdekten, laͤngſt nuͤzlich befundenen Kenntniſſe, und die Mittel zn Erlangung derſelben verabſaͤumen, ob nicht den ſich duͤnkenden Vielwiſſern und Ver- ſchlingern aller neuen Ausgebuhrten des menſchlichen Witzes und der menſchlichen Thorheit, das wiederfahren, was dem Hunde in der Fabel begegnete, der nach dem Schatten ſchnappte und die Realitaͤt fuͤr ſeinen Magen daruͤber aus dem Mau- le fallen ließ; ob man nicht mit den Wiſ- ſenſchaften wie mit den Nuͤſſen ſpiele, nur die aͤußere Schale betaſte, und der Zaͤhne ſchone ſie aufzubeiſſen, um zu dem ſchmak- haften Kern derſelben zu gelangen; ob alſo nicht wahre Gelehrſamkeit taͤglich mehr in Abnahme und Verfall gerathe: ſo muß ich nach meiner gewiſſenhaften Ueberzeu-
gung,
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wird, iſt Theorie der Gelehrſamkeit. Jch
leugne nicht, daß das Gebiete der menſch-
lichen Erkenntniß, bey der Betriebſamkeit
des menſchlichen Geiſtes, und der Leichtig-
keit dieſe Kenntniß mitzutheilen, taͤglich er-
weitert werde. Fragt man aber, ob dieſe
neuen Erweiterungen nicht groͤßten Theils
ohne Nutzen ſind; ob nicht unſere Zeitge-
noſſen, durch den Reiz der Neuheit geblen-
det, die bereits entdekten, laͤngſt nuͤzlich
befundenen Kenntniſſe, und die Mittel zn
Erlangung derſelben verabſaͤumen, ob nicht
den ſich duͤnkenden Vielwiſſern und Ver-
ſchlingern aller neuen Ausgebuhrten des
menſchlichen Witzes und der menſchlichen
Thorheit, das wiederfahren, was dem
Hunde in der Fabel begegnete, der nach
dem Schatten ſchnappte und die Realitaͤt
fuͤr ſeinen Magen daruͤber aus dem Mau-
le fallen ließ; ob man nicht mit den Wiſ-
ſenſchaften wie mit den Nuͤſſen ſpiele, nur
die aͤußere Schale betaſte, und der Zaͤhne
ſchone ſie aufzubeiſſen, um zu dem ſchmak-
haften Kern derſelben zu gelangen; ob alſo
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/165>, abgerufen am 16.02.2025.
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