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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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ist wirklich Thee. Sie sind also nicht nur "sogenannte"
Theehäuser, vielmehr führen sie ihren Namen mit Recht.
Rohe Krawalle, wie sie bei uns nur allzu häufig vor-
kommen, zumal als Nachspiele der Gemütlichkeit beim
Alkoholgenuß, giebt es in Japan fast gar nicht. Auch
rohes Schimpfen ist selten und Fluchen ist ganz unbe-
kannt; und dieses nicht nur bei den besseren Klassen,
sondern bis in die untersten Schichten des Volkes hinab.
Manchmal kann man beobachten, wie zwei Kuli, welche
vor ihren Handwagen in eiligem Lauf von verschiedenen
Richtungen daherkommen, durch Unachtsamkeit heftig
gegen einander anrennen. Das erzeugt gewiß kein an-
genehmes Gefühl, und wenn es sich um europäische
Arbeiter handelte, so würden sie ihren Schmerzen durch
Handgreiflichkeiten oder zum mindesten durch Schimpfen
und Fluchen Luft machen. Dort aber begnügen sich die
beiden Kuli, die kaum einen Arbeitskittel anhaben und
sich mit nackten Armen und Beinen gegenüberstehen,
eine elegante Salonverbeugung zu machen, und bitten
einander höflichst um Entschuldigung. Es ist eine Wohl-
erzogenheit sondergleichen, eine wohlthuende Harmonie,
die durch das ganze Volk hindurchgeht.

So ist das Ästhetische eine das ganze Leben tief
durchdringende Macht, eine Macht, welche thatsächlich
die Richtschnur der gesamten äußeren und zum Teil auch
der inneren Lebensführung bildet. Darf man doch un-
bedenklich behaupten, daß das Ästhetische vielfach höher
geschätzt wird als das Ethische, daß Etikette und feine
Form in den populären Anschauungen weiter Kreise über
der Sittlichkeit stehen. Daß eine so grundlegende Macht
sich auch produktiv geltend macht, ist selbstverständlich.

Die Kunst beginnt hier eigentlich schon mit dem
Handwerk. Denn auch der Handwerker ist in gewissem

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iſt wirklich Thee. Sie ſind alſo nicht nur „ſogenannte“
Theehäuſer, vielmehr führen ſie ihren Namen mit Recht.
Rohe Krawalle, wie ſie bei uns nur allzu häufig vor-
kommen, zumal als Nachſpiele der Gemütlichkeit beim
Alkoholgenuß, giebt es in Japan faſt gar nicht. Auch
rohes Schimpfen iſt ſelten und Fluchen iſt ganz unbe-
kannt; und dieſes nicht nur bei den beſſeren Klaſſen,
ſondern bis in die unterſten Schichten des Volkes hinab.
Manchmal kann man beobachten, wie zwei Kuli, welche
vor ihren Handwagen in eiligem Lauf von verſchiedenen
Richtungen daherkommen, durch Unachtſamkeit heftig
gegen einander anrennen. Das erzeugt gewiß kein an-
genehmes Gefühl, und wenn es ſich um europäiſche
Arbeiter handelte, ſo würden ſie ihren Schmerzen durch
Handgreiflichkeiten oder zum mindeſten durch Schimpfen
und Fluchen Luft machen. Dort aber begnügen ſich die
beiden Kuli, die kaum einen Arbeitskittel anhaben und
ſich mit nackten Armen und Beinen gegenüberſtehen,
eine elegante Salonverbeugung zu machen, und bitten
einander höflichſt um Entſchuldigung. Es iſt eine Wohl-
erzogenheit ſondergleichen, eine wohlthuende Harmonie,
die durch das ganze Volk hindurchgeht.

So iſt das Äſthetiſche eine das ganze Leben tief
durchdringende Macht, eine Macht, welche thatſächlich
die Richtſchnur der geſamten äußeren und zum Teil auch
der inneren Lebensführung bildet. Darf man doch un-
bedenklich behaupten, daß das Äſthetiſche vielfach höher
geſchätzt wird als das Ethiſche, daß Etikette und feine
Form in den populären Anſchauungen weiter Kreiſe über
der Sittlichkeit ſtehen. Daß eine ſo grundlegende Macht
ſich auch produktiv geltend macht, iſt ſelbſtverſtändlich.

Die Kunſt beginnt hier eigentlich ſchon mit dem
Handwerk. Denn auch der Handwerker iſt in gewiſſem

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[81/0095] iſt wirklich Thee. Sie ſind alſo nicht nur „ſogenannte“ Theehäuſer, vielmehr führen ſie ihren Namen mit Recht. Rohe Krawalle, wie ſie bei uns nur allzu häufig vor- kommen, zumal als Nachſpiele der Gemütlichkeit beim Alkoholgenuß, giebt es in Japan faſt gar nicht. Auch rohes Schimpfen iſt ſelten und Fluchen iſt ganz unbe- kannt; und dieſes nicht nur bei den beſſeren Klaſſen, ſondern bis in die unterſten Schichten des Volkes hinab. Manchmal kann man beobachten, wie zwei Kuli, welche vor ihren Handwagen in eiligem Lauf von verſchiedenen Richtungen daherkommen, durch Unachtſamkeit heftig gegen einander anrennen. Das erzeugt gewiß kein an- genehmes Gefühl, und wenn es ſich um europäiſche Arbeiter handelte, ſo würden ſie ihren Schmerzen durch Handgreiflichkeiten oder zum mindeſten durch Schimpfen und Fluchen Luft machen. Dort aber begnügen ſich die beiden Kuli, die kaum einen Arbeitskittel anhaben und ſich mit nackten Armen und Beinen gegenüberſtehen, eine elegante Salonverbeugung zu machen, und bitten einander höflichſt um Entſchuldigung. Es iſt eine Wohl- erzogenheit ſondergleichen, eine wohlthuende Harmonie, die durch das ganze Volk hindurchgeht. So iſt das Äſthetiſche eine das ganze Leben tief durchdringende Macht, eine Macht, welche thatſächlich die Richtſchnur der geſamten äußeren und zum Teil auch der inneren Lebensführung bildet. Darf man doch un- bedenklich behaupten, daß das Äſthetiſche vielfach höher geſchätzt wird als das Ethiſche, daß Etikette und feine Form in den populären Anſchauungen weiter Kreiſe über der Sittlichkeit ſtehen. Daß eine ſo grundlegende Macht ſich auch produktiv geltend macht, iſt ſelbſtverſtändlich. Die Kunſt beginnt hier eigentlich ſchon mit dem Handwerk. Denn auch der Handwerker iſt in gewiſſem 6

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/95>, abgerufen am 18.05.2024.