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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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kann es nicht verstehen, wie man sich über psychologische
und dogmatische Fragen ereifern kann. Für die feinen
Unterschiede religiöser Anschauungen hat er weder theore-
tisches noch praktisches Verständnis. Der Reiz, den der
gebildete Geist des Abendländers in der Welt der Phantasie
und Romantik findet, ist für seinen Geist ein unver-
ständliches Rätsel. Der Zauber, den Probleme oder
Spekulationen an sich auf den Abendländer ausüben,
ganz gleichgültig, ob daraus praktischer Nutzen springt
oder nicht, existiert für ihn nicht. An der Universität in
Tokyo unterrichtet neben einer Anzahl anderer deutscher
Lehrer auch ein Professor der Philosophie, ein Idealist
durch und durch; die Regierung drängt darauf, gerade
die deutsche Philosophie in Japan heimisch zu machen,
weil die Deutschen über die ganze Erde hin in dem
Rufe eines Volkes von Philosophen stehen; aber es will
nicht recht gelingen. Viel lieber gehen sie in die Schule
bei den praktischen Engländern. Die Namen Herbert
Spencer und J. Stuart Mill sind auch dem halbwüchsigen
Symnasiasten bekannt. Die Philosophie des Materialis-
mus ist die in Japan gebräuchliche. Die ganze Welt-
anschauung, soweit von Weltanschauung überhaupt die
Rede sein kann bei einem Volk, welches niemals die
Welt als Ganzes anschaut, sondern immer nur die Dinge
der Welt im einzelnen, ist materialistisch. Der Japaner
hat ein Sprichwort: "Ju-nin to-hara" ("zehn Menschen,
zehn Bäuche"), im Sinne völlig unserm: "So viel Köpfe,
so viel Sinne" entsprechend. Nun ist auch uns eine
gewisse Beziehung zwischen Magen- und Geistesthätig-
keit nicht ganz fremd und das lateinische Wort: "Plenus
venter non studet libenter"
("ein voller Bauch studiert
nicht gern") ist uns sattsam bekannt. Gleichwohl muß
es uns als ein wahrhaft klassisches Bild einer materia-

kann es nicht verſtehen, wie man ſich über pſychologiſche
und dogmatiſche Fragen ereifern kann. Für die feinen
Unterſchiede religiöſer Anſchauungen hat er weder theore-
tiſches noch praktiſches Verſtändnis. Der Reiz, den der
gebildete Geiſt des Abendländers in der Welt der Phantaſie
und Romantik findet, iſt für ſeinen Geiſt ein unver-
ſtändliches Rätſel. Der Zauber, den Probleme oder
Spekulationen an ſich auf den Abendländer ausüben,
ganz gleichgültig, ob daraus praktiſcher Nutzen ſpringt
oder nicht, exiſtiert für ihn nicht. An der Univerſität in
Tokyo unterrichtet neben einer Anzahl anderer deutſcher
Lehrer auch ein Profeſſor der Philoſophie, ein Idealiſt
durch und durch; die Regierung drängt darauf, gerade
die deutſche Philoſophie in Japan heimiſch zu machen,
weil die Deutſchen über die ganze Erde hin in dem
Rufe eines Volkes von Philoſophen ſtehen; aber es will
nicht recht gelingen. Viel lieber gehen ſie in die Schule
bei den praktiſchen Engländern. Die Namen Herbert
Spencer und J. Stuart Mill ſind auch dem halbwüchſigen
Symnaſiaſten bekannt. Die Philoſophie des Materialis-
mus iſt die in Japan gebräuchliche. Die ganze Welt-
anſchauung, ſoweit von Weltanſchauung überhaupt die
Rede ſein kann bei einem Volk, welches niemals die
Welt als Ganzes anſchaut, ſondern immer nur die Dinge
der Welt im einzelnen, iſt materialiſtiſch. Der Japaner
hat ein Sprichwort: „Ju-nin to-hara“ („zehn Menſchen,
zehn Bäuche“), im Sinne völlig unſerm: „So viel Köpfe,
ſo viel Sinne“ entſprechend. Nun iſt auch uns eine
gewiſſe Beziehung zwiſchen Magen- und Geiſtesthätig-
keit nicht ganz fremd und das lateiniſche Wort: „Plenus
venter non studet libenter“
(„ein voller Bauch ſtudiert
nicht gern“) iſt uns ſattſam bekannt. Gleichwohl muß
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[71/0085] kann es nicht verſtehen, wie man ſich über pſychologiſche und dogmatiſche Fragen ereifern kann. Für die feinen Unterſchiede religiöſer Anſchauungen hat er weder theore- tiſches noch praktiſches Verſtändnis. Der Reiz, den der gebildete Geiſt des Abendländers in der Welt der Phantaſie und Romantik findet, iſt für ſeinen Geiſt ein unver- ſtändliches Rätſel. Der Zauber, den Probleme oder Spekulationen an ſich auf den Abendländer ausüben, ganz gleichgültig, ob daraus praktiſcher Nutzen ſpringt oder nicht, exiſtiert für ihn nicht. An der Univerſität in Tokyo unterrichtet neben einer Anzahl anderer deutſcher Lehrer auch ein Profeſſor der Philoſophie, ein Idealiſt durch und durch; die Regierung drängt darauf, gerade die deutſche Philoſophie in Japan heimiſch zu machen, weil die Deutſchen über die ganze Erde hin in dem Rufe eines Volkes von Philoſophen ſtehen; aber es will nicht recht gelingen. Viel lieber gehen ſie in die Schule bei den praktiſchen Engländern. Die Namen Herbert Spencer und J. Stuart Mill ſind auch dem halbwüchſigen Symnaſiaſten bekannt. Die Philoſophie des Materialis- mus iſt die in Japan gebräuchliche. Die ganze Welt- anſchauung, ſoweit von Weltanſchauung überhaupt die Rede ſein kann bei einem Volk, welches niemals die Welt als Ganzes anſchaut, ſondern immer nur die Dinge der Welt im einzelnen, iſt materialiſtiſch. Der Japaner hat ein Sprichwort: „Ju-nin to-hara“ („zehn Menſchen, zehn Bäuche“), im Sinne völlig unſerm: „So viel Köpfe, ſo viel Sinne“ entſprechend. Nun iſt auch uns eine gewiſſe Beziehung zwiſchen Magen- und Geiſtesthätig- keit nicht ganz fremd und das lateiniſche Wort: „Plenus venter non studet libenter“ („ein voller Bauch ſtudiert nicht gern“) iſt uns ſattſam bekannt. Gleichwohl muß es uns als ein wahrhaft klaſſiſches Bild einer materia-

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/85>, abgerufen am 24.11.2024.