"Dieses Haus haben (sie) voriges Jahr gebaut" "kono iye wa kyonen tateta". Im Lateinischen würde in Fällen wie "im Senat wurde beschlossen" stets die passive Konstruktion eintreten; im Deutschen oder Englischen tritt sie gewöhnlich, aber nicht ausschließlich ein; und im Japanischen tritt sie möglichst überhaupt nicht ein. Der gebildete Deutsche empfindet den Unter- schied, ob er sich aktivisch oder passivisch ausdrückt, kaum irgendwie; der deutsche Bauer dagegen empfindet ihn; auch er wird stets das Aktiv vorziehen. "Im Reichstag wurde beschlossen" klingt ihm unbequem; "im Reichstag haben sie beschlossen", "voriges Jahr haben sie hier ein Haus gebaut", ist ihm das Geläufigere. Und so ist es im Japanischen durch die Sprache des ganzen Volkes hindurch. Daß diese Ausdrucksweise die konkretere und anschaulichere ist, ist unbedingt zuzugeben.
Von hohem Interesse ist das Fehlen der Futur- formen. Denn wenn einzelne Grammatiker von einem Futur I und einem Futur II reden, so beruht das auf einer falschen Auffassung der unbestimmten oder dis- junktiven Präsens- und Präteritumsformen. Eine solche Auffassung liegt darum nahe, weil das Futur als Aus- druck von etwas noch nicht Realem oft auch der Aus- druck einer Unbestimmtheit ist, so daß mitunter unser Futur mit der japanischen Unbestimmtheitsform wieder- zugeben ist.
Die Frage, warum der Japaner Gegenwart und Vergangenheit, aber keine Zukunft hat, ist unschwer zu beantworten. Gegenwart und Vergangenheit schließen erfahrungsgemäße Wirklichkeit in sich. Die Gegenwart lebt unmittelbar in der Welt der Wirklichkeit; sie ist daher besonders bevorzugt, indem oft sogar deutsche Perfekta in ihr ausgedrückt werden, wenn ein Mißver-
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„Dieſes Haus haben (ſie) voriges Jahr gebaut“ „kono iye wa kyonen tateta“. Im Lateiniſchen würde in Fällen wie „im Senat wurde beſchloſſen“ ſtets die paſſive Konſtruktion eintreten; im Deutſchen oder Engliſchen tritt ſie gewöhnlich, aber nicht ausſchließlich ein; und im Japaniſchen tritt ſie möglichſt überhaupt nicht ein. Der gebildete Deutſche empfindet den Unter- ſchied, ob er ſich aktiviſch oder paſſiviſch ausdrückt, kaum irgendwie; der deutſche Bauer dagegen empfindet ihn; auch er wird ſtets das Aktiv vorziehen. „Im Reichstag wurde beſchloſſen“ klingt ihm unbequem; „im Reichstag haben ſie beſchloſſen“, „voriges Jahr haben ſie hier ein Haus gebaut“, iſt ihm das Geläufigere. Und ſo iſt es im Japaniſchen durch die Sprache des ganzen Volkes hindurch. Daß dieſe Ausdrucksweiſe die konkretere und anſchaulichere iſt, iſt unbedingt zuzugeben.
Von hohem Intereſſe iſt das Fehlen der Futur- formen. Denn wenn einzelne Grammatiker von einem Futur I und einem Futur II reden, ſo beruht das auf einer falſchen Auffaſſung der unbeſtimmten oder dis- junktiven Präſens- und Präteritumsformen. Eine ſolche Auffaſſung liegt darum nahe, weil das Futur als Aus- druck von etwas noch nicht Realem oft auch der Aus- druck einer Unbeſtimmtheit iſt, ſo daß mitunter unſer Futur mit der japaniſchen Unbeſtimmtheitsform wieder- zugeben iſt.
Die Frage, warum der Japaner Gegenwart und Vergangenheit, aber keine Zukunft hat, iſt unſchwer zu beantworten. Gegenwart und Vergangenheit ſchließen erfahrungsgemäße Wirklichkeit in ſich. Die Gegenwart lebt unmittelbar in der Welt der Wirklichkeit; ſie iſt daher beſonders bevorzugt, indem oft ſogar deutſche Perfekta in ihr ausgedrückt werden, wenn ein Mißver-
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„Dieſes Haus haben (ſie) voriges Jahr gebaut“ „kono
iye wa kyonen tateta“. Im Lateiniſchen würde in
Fällen wie „im Senat wurde beſchloſſen“ ſtets die
paſſive Konſtruktion eintreten; im Deutſchen oder
Engliſchen tritt ſie gewöhnlich, aber nicht ausſchließlich
ein; und im Japaniſchen tritt ſie möglichſt überhaupt
nicht ein. Der gebildete Deutſche empfindet den Unter-
ſchied, ob er ſich aktiviſch oder paſſiviſch ausdrückt,
kaum irgendwie; der deutſche Bauer dagegen empfindet
ihn; auch er wird ſtets das Aktiv vorziehen. „Im
Reichstag wurde beſchloſſen“ klingt ihm unbequem; „im
Reichstag haben ſie beſchloſſen“, „voriges Jahr haben
ſie hier ein Haus gebaut“, iſt ihm das Geläufigere.
Und ſo iſt es im Japaniſchen durch die Sprache des
ganzen Volkes hindurch. Daß dieſe Ausdrucksweiſe die
konkretere und anſchaulichere iſt, iſt unbedingt zuzugeben.
Von hohem Intereſſe iſt das Fehlen der Futur-
formen. Denn wenn einzelne Grammatiker von einem
Futur I und einem Futur II reden, ſo beruht das auf
einer falſchen Auffaſſung der unbeſtimmten oder dis-
junktiven Präſens- und Präteritumsformen. Eine ſolche
Auffaſſung liegt darum nahe, weil das Futur als Aus-
druck von etwas noch nicht Realem oft auch der Aus-
druck einer Unbeſtimmtheit iſt, ſo daß mitunter unſer
Futur mit der japaniſchen Unbeſtimmtheitsform wieder-
zugeben iſt.
Die Frage, warum der Japaner Gegenwart und
Vergangenheit, aber keine Zukunft hat, iſt unſchwer zu
beantworten. Gegenwart und Vergangenheit ſchließen
erfahrungsgemäße Wirklichkeit in ſich. Die Gegenwart
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daher beſonders bevorzugt, indem oft ſogar deutſche
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/63>, abgerufen am 24.11.2024.
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