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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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licher Einflüsse, welche von den abendländischen Christen
ausgehen.

Alle diese Bächlein, vereint mit den anderen, machen
zum Schluß einen reißenden Strom, der die Bänke des
Heidentums unterwühlt, die Ufer überflutet und die
Strebepfeiler in das Wanken bringt. Bedeutender noch
als die positiven Wirkungen im Aufbau einer neuen
christlichen Gedankenwelt sind zunächst die negativen in
der Zerstörung der alten Geistesmächte. Die alten
sozialen Grundlagen der Gesellschaft haben radikale
Veränderungen erfahren. Der Individualismus hat sich
Bahn gebrochen; da er aber noch keine feste Grundlage
hat, so sind es teilweise anarchistische Zustände, die so
in der ethischen Welt geschaffen werden. Aber je
verworrener sie sind, und je entschiedener man sich vor
die Alternative gestellt sieht: Untergang oder Neu-
geburt, um so rascher sieht man sich gezwungen, nach
Hilfe auszuschauen. Es ist bezeichnend für den Stand
der Dinge, daß Japans erster Staatsmann Ito, welcher
seiner Freude über die atheistischen Tendenzen seiner Lands-
leute Ausdruck verliehen hat, zu gleicher Zeit mit Ban-
gen in die Zukunft sieht, da er weiß, daß es so nicht
weiter gehen kann. Und das ist die Sorge der Edelsten
des Volkes, mögen sie rechts oder links stehen. Die
sittlichen Grundlagen --, so lautet das stehende Thema
der Diskussion, und es ist wahrhaft erschütternd, diese
Volksseele in ihrem Ringen zu beobachten. Es sind
die Geburtswehen einer neuen Zeit. Das Alte stürzt,
und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Bei uns pflegt man die Erfolge der Mission nach
der Seelenzahl der Bekehrten zu schätzen und mit hämi-
schem Spott rechnet man dann aus, wie viel eine
Heidenseele kostet. Aber ganz abgesehen davon, daß

licher Einflüſſe, welche von den abendländiſchen Chriſten
ausgehen.

Alle dieſe Bächlein, vereint mit den anderen, machen
zum Schluß einen reißenden Strom, der die Bänke des
Heidentums unterwühlt, die Ufer überflutet und die
Strebepfeiler in das Wanken bringt. Bedeutender noch
als die poſitiven Wirkungen im Aufbau einer neuen
chriſtlichen Gedankenwelt ſind zunächſt die negativen in
der Zerſtörung der alten Geiſtesmächte. Die alten
ſozialen Grundlagen der Geſellſchaft haben radikale
Veränderungen erfahren. Der Individualismus hat ſich
Bahn gebrochen; da er aber noch keine feſte Grundlage
hat, ſo ſind es teilweiſe anarchiſtiſche Zuſtände, die ſo
in der ethiſchen Welt geſchaffen werden. Aber je
verworrener ſie ſind, und je entſchiedener man ſich vor
die Alternative geſtellt ſieht: Untergang oder Neu-
geburt, um ſo raſcher ſieht man ſich gezwungen, nach
Hilfe auszuſchauen. Es iſt bezeichnend für den Stand
der Dinge, daß Japans erſter Staatsmann Ito, welcher
ſeiner Freude über die atheiſtiſchen Tendenzen ſeiner Lands-
leute Ausdruck verliehen hat, zu gleicher Zeit mit Ban-
gen in die Zukunft ſieht, da er weiß, daß es ſo nicht
weiter gehen kann. Und das iſt die Sorge der Edelſten
des Volkes, mögen ſie rechts oder links ſtehen. Die
ſittlichen Grundlagen —, ſo lautet das ſtehende Thema
der Diskuſſion, und es iſt wahrhaft erſchütternd, dieſe
Volksſeele in ihrem Ringen zu beobachten. Es ſind
die Geburtswehen einer neuen Zeit. Das Alte ſtürzt,
und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Bei uns pflegt man die Erfolge der Miſſion nach
der Seelenzahl der Bekehrten zu ſchätzen und mit hämi-
ſchem Spott rechnet man dann aus, wie viel eine
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[415/0429] licher Einflüſſe, welche von den abendländiſchen Chriſten ausgehen. Alle dieſe Bächlein, vereint mit den anderen, machen zum Schluß einen reißenden Strom, der die Bänke des Heidentums unterwühlt, die Ufer überflutet und die Strebepfeiler in das Wanken bringt. Bedeutender noch als die poſitiven Wirkungen im Aufbau einer neuen chriſtlichen Gedankenwelt ſind zunächſt die negativen in der Zerſtörung der alten Geiſtesmächte. Die alten ſozialen Grundlagen der Geſellſchaft haben radikale Veränderungen erfahren. Der Individualismus hat ſich Bahn gebrochen; da er aber noch keine feſte Grundlage hat, ſo ſind es teilweiſe anarchiſtiſche Zuſtände, die ſo in der ethiſchen Welt geſchaffen werden. Aber je verworrener ſie ſind, und je entſchiedener man ſich vor die Alternative geſtellt ſieht: Untergang oder Neu- geburt, um ſo raſcher ſieht man ſich gezwungen, nach Hilfe auszuſchauen. Es iſt bezeichnend für den Stand der Dinge, daß Japans erſter Staatsmann Ito, welcher ſeiner Freude über die atheiſtiſchen Tendenzen ſeiner Lands- leute Ausdruck verliehen hat, zu gleicher Zeit mit Ban- gen in die Zukunft ſieht, da er weiß, daß es ſo nicht weiter gehen kann. Und das iſt die Sorge der Edelſten des Volkes, mögen ſie rechts oder links ſtehen. Die ſittlichen Grundlagen —, ſo lautet das ſtehende Thema der Diskuſſion, und es iſt wahrhaft erſchütternd, dieſe Volksſeele in ihrem Ringen zu beobachten. Es ſind die Geburtswehen einer neuen Zeit. Das Alte ſtürzt, und neues Leben blüht aus den Ruinen. Bei uns pflegt man die Erfolge der Miſſion nach der Seelenzahl der Bekehrten zu ſchätzen und mit hämi- ſchem Spott rechnet man dann aus, wie viel eine Heidenſeele koſtet. Aber ganz abgeſehen davon, daß

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/429>, abgerufen am 17.05.2024.