hielt, was nach Unglauben schmeckt, läßt sich leicht überzeugen, wenn er nachher zufällig Pfleiderers Reli- gionsphilosophie in die Hände bekommt; und wäre es Schopenhauer, so würde er, um seinem neuen Abgott zu huldigen, ebensowohl seinen nichtfundierten Glaubens- besitz über Bord werfen. Der Theologe aber, mag er nun orthodox oder liberal sein, welcher an der Hand des Lehrers durch die Gedankengänge des Skeptizismus gegangen ist, steht auf festem Boden; er kennt die Feinde, er hat sie selbst schon überwunden, er fürchtet sie nicht mehr. Ist der Japaner leicht, so ist es gut, daß er durch eine durchgebildete Weltanschauung be- schwert werde, damit er nicht wie ein schwankendes Rohr von jedem Windhauch bewegt werde. Hier liegt die Bürgschaft gegen einen sonst sehr gefährlichen Radi- kalismus. Die Vermeidung der historisch-kritischen Methode ist dabei unmöglich, wenn auch die Durch- dringung mit christlichem Geist und Leben das alleinige Ziel bleibt.
Auf diesen Standpunkt hat sich auch die Mission des Allg. evang.-prot. Missionsvereins gestellt. Ihre Theologische Schule (Shinkyo Shingakko = Protestantische Theologieschule) steht im Mittelpunkte der missionari- schen Thätigkeit. Während meines japanischen Aufent- halts habe ich wöchentlich sechszehn bis zu sechsund- zwanzig Stunden Unterricht an dieser Schule gegeben, infolge von Mangel an Lehrkräften so viele, daß es nicht möglich war, der großen Aufgabe voll und ganz gerecht zu werden. Wir versuchten, unseren Studenten Hochschulbildung mitzuteilen, nicht zwar in akademischer Freiheit, sondern in seminaristischer Zucht. Ihre Schluß- examina würden sie auch vor einer deutschen theolo- gischen Prüfungskommission bestanden haben. Den Unter- richt erteilten wir, wie das in den Seminarien der Ame-
hielt, was nach Unglauben ſchmeckt, läßt ſich leicht überzeugen, wenn er nachher zufällig Pfleiderers Reli- gionsphiloſophie in die Hände bekommt; und wäre es Schopenhauer, ſo würde er, um ſeinem neuen Abgott zu huldigen, ebenſowohl ſeinen nichtfundierten Glaubens- beſitz über Bord werfen. Der Theologe aber, mag er nun orthodox oder liberal ſein, welcher an der Hand des Lehrers durch die Gedankengänge des Skeptizismus gegangen iſt, ſteht auf feſtem Boden; er kennt die Feinde, er hat ſie ſelbſt ſchon überwunden, er fürchtet ſie nicht mehr. Iſt der Japaner leicht, ſo iſt es gut, daß er durch eine durchgebildete Weltanſchauung be- ſchwert werde, damit er nicht wie ein ſchwankendes Rohr von jedem Windhauch bewegt werde. Hier liegt die Bürgſchaft gegen einen ſonſt ſehr gefährlichen Radi- kalismus. Die Vermeidung der hiſtoriſch-kritiſchen Methode iſt dabei unmöglich, wenn auch die Durch- dringung mit chriſtlichem Geiſt und Leben das alleinige Ziel bleibt.
Auf dieſen Standpunkt hat ſich auch die Miſſion des Allg. evang.-prot. Miſſionsvereins geſtellt. Ihre Theologiſche Schule (Shinkyo Shingakkō = Proteſtantiſche Theologieſchule) ſteht im Mittelpunkte der miſſionari- ſchen Thätigkeit. Während meines japaniſchen Aufent- halts habe ich wöchentlich ſechszehn bis zu ſechsund- zwanzig Stunden Unterricht an dieſer Schule gegeben, infolge von Mangel an Lehrkräften ſo viele, daß es nicht möglich war, der großen Aufgabe voll und ganz gerecht zu werden. Wir verſuchten, unſeren Studenten Hochſchulbildung mitzuteilen, nicht zwar in akademiſcher Freiheit, ſondern in ſeminariſtiſcher Zucht. Ihre Schluß- examina würden ſie auch vor einer deutſchen theolo- giſchen Prüfungskommiſſion beſtanden haben. Den Unter- richt erteilten wir, wie das in den Seminarien der Ame-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0389"n="375"/>
hielt, was nach Unglauben ſchmeckt, läßt ſich leicht<lb/>
überzeugen, wenn er nachher zufällig Pfleiderers Reli-<lb/>
gionsphiloſophie in die Hände bekommt; und wäre es<lb/>
Schopenhauer, ſo würde er, um ſeinem neuen Abgott<lb/>
zu huldigen, ebenſowohl ſeinen nichtfundierten Glaubens-<lb/>
beſitz über Bord werfen. Der Theologe aber, mag er<lb/>
nun orthodox oder liberal ſein, welcher an der Hand<lb/>
des Lehrers durch die Gedankengänge des Skeptizismus<lb/>
gegangen iſt, ſteht auf feſtem Boden; er kennt die<lb/>
Feinde, er hat ſie ſelbſt ſchon überwunden, er fürchtet<lb/>ſie nicht mehr. Iſt der Japaner leicht, ſo iſt es gut,<lb/>
daß er durch eine durchgebildete Weltanſchauung be-<lb/>ſchwert werde, damit er nicht wie ein ſchwankendes<lb/>
Rohr von jedem Windhauch bewegt werde. Hier liegt<lb/>
die Bürgſchaft gegen einen ſonſt ſehr gefährlichen Radi-<lb/>
kalismus. Die Vermeidung der hiſtoriſch-kritiſchen<lb/>
Methode iſt dabei unmöglich, wenn auch die Durch-<lb/>
dringung mit chriſtlichem Geiſt und Leben das alleinige<lb/>
Ziel bleibt.</p><lb/><p>Auf dieſen Standpunkt hat ſich auch die Miſſion<lb/>
des Allg. evang.-prot. Miſſionsvereins geſtellt. Ihre<lb/>
Theologiſche Schule (<hirendition="#aq">Shinkyo Shingakkō</hi> = Proteſtantiſche<lb/>
Theologieſchule) ſteht im Mittelpunkte der miſſionari-<lb/>ſchen Thätigkeit. Während meines japaniſchen Aufent-<lb/>
halts habe ich wöchentlich ſechszehn bis zu ſechsund-<lb/>
zwanzig Stunden Unterricht an dieſer Schule gegeben,<lb/>
infolge von Mangel an Lehrkräften ſo viele, daß es<lb/>
nicht möglich war, der großen Aufgabe voll und ganz<lb/>
gerecht zu werden. Wir verſuchten, unſeren Studenten<lb/>
Hochſchulbildung mitzuteilen, nicht zwar in akademiſcher<lb/>
Freiheit, ſondern in ſeminariſtiſcher Zucht. Ihre Schluß-<lb/>
examina würden ſie auch vor einer deutſchen theolo-<lb/>
giſchen Prüfungskommiſſion beſtanden haben. Den Unter-<lb/>
richt erteilten wir, wie das in den Seminarien der Ame-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[375/0389]
hielt, was nach Unglauben ſchmeckt, läßt ſich leicht
überzeugen, wenn er nachher zufällig Pfleiderers Reli-
gionsphiloſophie in die Hände bekommt; und wäre es
Schopenhauer, ſo würde er, um ſeinem neuen Abgott
zu huldigen, ebenſowohl ſeinen nichtfundierten Glaubens-
beſitz über Bord werfen. Der Theologe aber, mag er
nun orthodox oder liberal ſein, welcher an der Hand
des Lehrers durch die Gedankengänge des Skeptizismus
gegangen iſt, ſteht auf feſtem Boden; er kennt die
Feinde, er hat ſie ſelbſt ſchon überwunden, er fürchtet
ſie nicht mehr. Iſt der Japaner leicht, ſo iſt es gut,
daß er durch eine durchgebildete Weltanſchauung be-
ſchwert werde, damit er nicht wie ein ſchwankendes
Rohr von jedem Windhauch bewegt werde. Hier liegt
die Bürgſchaft gegen einen ſonſt ſehr gefährlichen Radi-
kalismus. Die Vermeidung der hiſtoriſch-kritiſchen
Methode iſt dabei unmöglich, wenn auch die Durch-
dringung mit chriſtlichem Geiſt und Leben das alleinige
Ziel bleibt.
Auf dieſen Standpunkt hat ſich auch die Miſſion
des Allg. evang.-prot. Miſſionsvereins geſtellt. Ihre
Theologiſche Schule (Shinkyo Shingakkō = Proteſtantiſche
Theologieſchule) ſteht im Mittelpunkte der miſſionari-
ſchen Thätigkeit. Während meines japaniſchen Aufent-
halts habe ich wöchentlich ſechszehn bis zu ſechsund-
zwanzig Stunden Unterricht an dieſer Schule gegeben,
infolge von Mangel an Lehrkräften ſo viele, daß es
nicht möglich war, der großen Aufgabe voll und ganz
gerecht zu werden. Wir verſuchten, unſeren Studenten
Hochſchulbildung mitzuteilen, nicht zwar in akademiſcher
Freiheit, ſondern in ſeminariſtiſcher Zucht. Ihre Schluß-
examina würden ſie auch vor einer deutſchen theolo-
giſchen Prüfungskommiſſion beſtanden haben. Den Unter-
richt erteilten wir, wie das in den Seminarien der Ame-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/389>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.