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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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scharf und unbehaglich zum Bewußtsein. Rasch sprang
ich auf, dem Ausgang zu. Meine ganze Not waren
jetzt meine Schuhe. Die hatte ich der Sitte gemäß
beim Eintritt ausgezogen und auf dem Flur gelassen.
Zum Glück fand ich sie leicht und lief nun, was ich
konnte, um aus dem Dorf hinauszukommen. Es war
stockdunkel, und der Weg war schlecht. Da hörte ich
plötzlich jemand hinter mir rufen: "Kimi, kimi",
"Kolleg, Kolleg"! Es war mein buddhistischer Stief-
kolleg, und beruhigt trabte ich mit ihm unserm Dorfe
zu. Übrigens will ich noch, weil es nun einmal charakte-
ristisch ist, hinzufügen, daß der Doktor am nächsten
Nachmittag mit zerknirschter Miene zu mir kam und
mich höflichst um Entschuldigung für seine "Roheit"
bat. Auch mein geistlicher Nachbar war mitgekommen,
und da er nun einmal ein eingebildeter Prahlhans war,
so fing er sofort zu renommieren an, er habe mich am
Abend zuvor gerettet!

Der Japaner ist früh reif. Bei keinem Volk der
Erde trifft das Wort mehr zu: "Schnellfertig ist die
Jugend mit dem Wort". Seine Frühreife und Schnell-
fertigkeit äußert sich auf allen Gebieten des Lebens
und des Wissens, nirgends aber so sehr wie auf dem
Gebiete der Politik. Der zwölfjährige Knabe fängt allen
Ernstes zu politisieren an. Große Staatsmänner wie
Okuma sind Inhaber von Schulen, in welchen sie den
politischen Sinn direkt und indirekt geflissentlich fördern,
um sich aus dem jungen Geschlecht Anhänger groß zu
ziehen. Kein Land hat solche Scharen politisierender
Burschen aufzuweisen wie Japan. Da sind Leute, die
als Zeitungsschreiber, Politiker und Redner einen Ruf
haben, man hat ihre Namen oft in der Zeitung gelesen,
und man verbindet mit ihnen ehrfürchtige Vorstellungen.

ſcharf und unbehaglich zum Bewußtſein. Raſch ſprang
ich auf, dem Ausgang zu. Meine ganze Not waren
jetzt meine Schuhe. Die hatte ich der Sitte gemäß
beim Eintritt ausgezogen und auf dem Flur gelaſſen.
Zum Glück fand ich ſie leicht und lief nun, was ich
konnte, um aus dem Dorf hinauszukommen. Es war
ſtockdunkel, und der Weg war ſchlecht. Da hörte ich
plötzlich jemand hinter mir rufen: „Kimi, kimi“,
„Kolleg, Kolleg“! Es war mein buddhiſtiſcher Stief-
kolleg, und beruhigt trabte ich mit ihm unſerm Dorfe
zu. Übrigens will ich noch, weil es nun einmal charakte-
riſtiſch iſt, hinzufügen, daß der Doktor am nächſten
Nachmittag mit zerknirſchter Miene zu mir kam und
mich höflichſt um Entſchuldigung für ſeine „Roheit“
bat. Auch mein geiſtlicher Nachbar war mitgekommen,
und da er nun einmal ein eingebildeter Prahlhans war,
ſo fing er ſofort zu renommieren an, er habe mich am
Abend zuvor gerettet!

Der Japaner iſt früh reif. Bei keinem Volk der
Erde trifft das Wort mehr zu: „Schnellfertig iſt die
Jugend mit dem Wort“. Seine Frühreife und Schnell-
fertigkeit äußert ſich auf allen Gebieten des Lebens
und des Wiſſens, nirgends aber ſo ſehr wie auf dem
Gebiete der Politik. Der zwölfjährige Knabe fängt allen
Ernſtes zu politiſieren an. Große Staatsmänner wie
Ōkuma ſind Inhaber von Schulen, in welchen ſie den
politiſchen Sinn direkt und indirekt gefliſſentlich fördern,
um ſich aus dem jungen Geſchlecht Anhänger groß zu
ziehen. Kein Land hat ſolche Scharen politiſierender
Burſchen aufzuweiſen wie Japan. Da ſind Leute, die
als Zeitungsſchreiber, Politiker und Redner einen Ruf
haben, man hat ihre Namen oft in der Zeitung geleſen,
und man verbindet mit ihnen ehrfürchtige Vorſtellungen.

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[166/0180] ſcharf und unbehaglich zum Bewußtſein. Raſch ſprang ich auf, dem Ausgang zu. Meine ganze Not waren jetzt meine Schuhe. Die hatte ich der Sitte gemäß beim Eintritt ausgezogen und auf dem Flur gelaſſen. Zum Glück fand ich ſie leicht und lief nun, was ich konnte, um aus dem Dorf hinauszukommen. Es war ſtockdunkel, und der Weg war ſchlecht. Da hörte ich plötzlich jemand hinter mir rufen: „Kimi, kimi“, „Kolleg, Kolleg“! Es war mein buddhiſtiſcher Stief- kolleg, und beruhigt trabte ich mit ihm unſerm Dorfe zu. Übrigens will ich noch, weil es nun einmal charakte- riſtiſch iſt, hinzufügen, daß der Doktor am nächſten Nachmittag mit zerknirſchter Miene zu mir kam und mich höflichſt um Entſchuldigung für ſeine „Roheit“ bat. Auch mein geiſtlicher Nachbar war mitgekommen, und da er nun einmal ein eingebildeter Prahlhans war, ſo fing er ſofort zu renommieren an, er habe mich am Abend zuvor gerettet! Der Japaner iſt früh reif. Bei keinem Volk der Erde trifft das Wort mehr zu: „Schnellfertig iſt die Jugend mit dem Wort“. Seine Frühreife und Schnell- fertigkeit äußert ſich auf allen Gebieten des Lebens und des Wiſſens, nirgends aber ſo ſehr wie auf dem Gebiete der Politik. Der zwölfjährige Knabe fängt allen Ernſtes zu politiſieren an. Große Staatsmänner wie Ōkuma ſind Inhaber von Schulen, in welchen ſie den politiſchen Sinn direkt und indirekt gefliſſentlich fördern, um ſich aus dem jungen Geſchlecht Anhänger groß zu ziehen. Kein Land hat ſolche Scharen politiſierender Burſchen aufzuweiſen wie Japan. Da ſind Leute, die als Zeitungsſchreiber, Politiker und Redner einen Ruf haben, man hat ihre Namen oft in der Zeitung geleſen, und man verbindet mit ihnen ehrfürchtige Vorſtellungen.

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/180>, abgerufen am 17.05.2024.