abgelegensten Örtchen gehen sie nicht vorüber. Ich hielt mich einmal zur Zeit des Hochsommers teils zu Sprachstudien, teils zur Erholung in einem abgelegenen Fischerdorf an der See auf. Neben meiner Wohnung war der Tempel des Dorfes, und mit dem buddhistischen Priester war ich persönlich bekannt geworden. Eines Abends lud er mich ein, mit ihm zum nächsten Dorfe, einem verlorenen Neste von ungefähr dreihundert Seelen, zu gehen: Dort finde eine politische Vortragsversamm- lung der radikalen Partei statt. Ich ging mit ihm. In dem Dorfe hatte er einen guten Freund, den Doktor des Ortes. In Japan sitzt ein Doktor in jedem Ort; dieser war übrigens einer, dem ich mich nicht anvertraut hätte, denn seine Heilmethode war noch die alte chine- sische mit einem bißchen holländischer Anatomie. Der Doktor war gerade bei dem Abendessen und hatte -- was eine Ausnahme ist -- dem Sake, dem Reisschnaps, etwas reichlich zugesprochen. Er lud uns ein mitzu- essen, aber der Reis mit rohem Fisch und übelriechen- den eingemachten Rüben war mir doch zu wenig ver- lockend. Wir begnügten uns mit einem Schälchen Sake; denn ganz abschlagen darf man nicht, da man sonst beleidigt. Schließlich kamen wir verspätet zum Ver- sammlungslokal, dem Theehaus des Ortes. Die niedrige rauchige Stube mit dem Feuerplatz in der Mitte, spär- lich erhellt von zwei elenden Lämpchen, war schon dicht besetzt. Nur mit Mühe konnten wir noch ein Plätzchen finden, um uns gleich den andern auf den Boden nieder- zulassen. Die Bauern schauten mich verwundert an; denn daß ein Fremder eine japanische politische Ver- sammlung besucht, ist selbst in Tokyo unerhört, geschweige denn im Innern des Landes. Die beiden Redner, zwei Soshi von Yokohama, hatten sechs Themata bekannt
abgelegenſten Örtchen gehen ſie nicht vorüber. Ich hielt mich einmal zur Zeit des Hochſommers teils zu Sprachſtudien, teils zur Erholung in einem abgelegenen Fiſcherdorf an der See auf. Neben meiner Wohnung war der Tempel des Dorfes, und mit dem buddhiſtiſchen Prieſter war ich perſönlich bekannt geworden. Eines Abends lud er mich ein, mit ihm zum nächſten Dorfe, einem verlorenen Neſte von ungefähr dreihundert Seelen, zu gehen: Dort finde eine politiſche Vortragsverſamm- lung der radikalen Partei ſtatt. Ich ging mit ihm. In dem Dorfe hatte er einen guten Freund, den Doktor des Ortes. In Japan ſitzt ein Doktor in jedem Ort; dieſer war übrigens einer, dem ich mich nicht anvertraut hätte, denn ſeine Heilmethode war noch die alte chine- ſiſche mit einem bißchen holländiſcher Anatomie. Der Doktor war gerade bei dem Abendeſſen und hatte — was eine Ausnahme iſt — dem Saké, dem Reisſchnaps, etwas reichlich zugeſprochen. Er lud uns ein mitzu- eſſen, aber der Reis mit rohem Fiſch und übelriechen- den eingemachten Rüben war mir doch zu wenig ver- lockend. Wir begnügten uns mit einem Schälchen Saké; denn ganz abſchlagen darf man nicht, da man ſonſt beleidigt. Schließlich kamen wir verſpätet zum Ver- ſammlungslokal, dem Theehaus des Ortes. Die niedrige rauchige Stube mit dem Feuerplatz in der Mitte, ſpär- lich erhellt von zwei elenden Lämpchen, war ſchon dicht beſetzt. Nur mit Mühe konnten wir noch ein Plätzchen finden, um uns gleich den andern auf den Boden nieder- zulaſſen. Die Bauern ſchauten mich verwundert an; denn daß ein Fremder eine japaniſche politiſche Ver- ſammlung beſucht, iſt ſelbſt in Tokyo unerhört, geſchweige denn im Innern des Landes. Die beiden Redner, zwei Soſhi von Yokohama, hatten ſechs Themata bekannt
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abgelegenſten Örtchen gehen ſie nicht vorüber. Ich
hielt mich einmal zur Zeit des Hochſommers teils zu
Sprachſtudien, teils zur Erholung in einem abgelegenen
Fiſcherdorf an der See auf. Neben meiner Wohnung
war der Tempel des Dorfes, und mit dem buddhiſtiſchen
Prieſter war ich perſönlich bekannt geworden. Eines
Abends lud er mich ein, mit ihm zum nächſten Dorfe,
einem verlorenen Neſte von ungefähr dreihundert Seelen,
zu gehen: Dort finde eine politiſche Vortragsverſamm-
lung der radikalen Partei ſtatt. Ich ging mit ihm.
In dem Dorfe hatte er einen guten Freund, den Doktor
des Ortes. In Japan ſitzt ein Doktor in jedem Ort;
dieſer war übrigens einer, dem ich mich nicht anvertraut
hätte, denn ſeine Heilmethode war noch die alte chine-
ſiſche mit einem bißchen holländiſcher Anatomie. Der
Doktor war gerade bei dem Abendeſſen und hatte —
was eine Ausnahme iſt — dem Saké, dem Reisſchnaps,
etwas reichlich zugeſprochen. Er lud uns ein mitzu-
eſſen, aber der Reis mit rohem Fiſch und übelriechen-
den eingemachten Rüben war mir doch zu wenig ver-
lockend. Wir begnügten uns mit einem Schälchen Saké;
denn ganz abſchlagen darf man nicht, da man ſonſt
beleidigt. Schließlich kamen wir verſpätet zum Ver-
ſammlungslokal, dem Theehaus des Ortes. Die niedrige
rauchige Stube mit dem Feuerplatz in der Mitte, ſpär-
lich erhellt von zwei elenden Lämpchen, war ſchon dicht
beſetzt. Nur mit Mühe konnten wir noch ein Plätzchen
finden, um uns gleich den andern auf den Boden nieder-
zulaſſen. Die Bauern ſchauten mich verwundert an;
denn daß ein Fremder eine japaniſche politiſche Ver-
ſammlung beſucht, iſt ſelbſt in Tokyo unerhört, geſchweige
denn im Innern des Landes. Die beiden Redner, zwei
Soſhi von Yokohama, hatten ſechs Themata bekannt
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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